Zur WELTBÜHNE gibt es zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen. Im Oktober 2001 fand in Berlin eine WELTBÜHNEN-Tagung statt, an der auch die Kurt Hiller Gesellschaft teilnahm. Prof. Georg Fülberth erläuterte in einem unterhaltsamen Vortrag die Rolle Hillers als "zentraler Randfigur" der linken Szene der Weimarer Republik und innerhalb der WB.

Nachfolgend einige der mehr als 160 Texte, die Hiller in der WB von 1918 bis 1933 publizierte.

Bayrischer Verfassungsbruch
WB, Jg.20, Nr.33, 14.August 1924, S.248-250


Es gibt Fälle, wo der ganz Kühle, ganz Unbefangene schwankt: Recht oder Unrecht?, und sogar der Fanatiker quer durch seine Entrüstung eine Art Stachel fühlt ... Und dann gibt es Fälle, wo klipp und klar und unbezweifelbar dickes, rundes Unrecht zum Greifen dasteht und selbst der prinzipiell Loyale die Achseln zuckt.
Ich bin nun kein prinzipiell Loyaler; übrigens auch kein prinzipieller Opponent. Aber das Achselzucken und Schweigen zu glatten Rechtsbrüchen wäre Versündigung an der Idee der Gerechtigkeit. Wo der Staat lasch ist oder Böcke schießt oder aus roher Trägheit unmenschlich handelt, mag man es, falls man kann, hingehn lassen; wo er vorsätzlich das Recht mit Füßen tritt, wo er zum kalten berechnenden Verbrecher wird, da wäre man verächtlich, schlüge man nicht drein.
Ich klage die Regierung des Landes Bayern an, neuerdings im Falle Ernst Toller mit Vorbedacht das im Deutschen Reich geltende öffentliche Recht gebrochen zu haben. Ich fordere, als Bürger des Rechtsstaates Deutsches Reich, den sofortigen Rücktritt dieser widerrechtlich handelnden Landesregierung.
Als Tollers fünf Jahre Festung kürzlich abgelaufen waren und man sich wohl oder übel entschließen mußte, diesen verhaßten Kopf in die Freiheit zu entlassen, vielmehr in Das, was heute als Ersatz für Freiheit verabreicht wird, da teilte man ihm mit, daß er "aus Bayern ausgewiesen" sei, und zwar, weil er "seine Gesinnung nicht geändert" habe. Wäre er zu Kreuze gekrochen, gar zu Hakenkreuze, hätte er den Gott in seinem Innern abgeschworen, so hätte Bayern den Renegaten für des bayrischen Bodens würdig befunden. Hingegen Charaktere haben in Bayern nichts zu suchen, meint Bayern.
Ein moralisches Problem, das mich nicht interessiert. Mich interessiert das juristische.
Bayern ist ein Bestandteil der Republik Deutsches Reich. In Bayern gilt die Verfassung des Deutschen Reiches. Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919 erklärt in Artikel 6: "Das Reich hat die ausschließliche Gesetzgebung ... über die Freizügigkeit." (Der Ausdruck "ausschließliche" bedeutet, daß hier die Länder unter keinen Umständen hineinreden dürfen.) Die Reichsverfassung sagt in Artikel 110: "Jeder Deutsche hat in jedem Lande des Reichs die gleichen Rechte und Pflichten wie die Angehörigen des Landes selbst." Also in Bayern die Rechte eines Bayern. Und in Artikel 111: "Alle Deutschen genießen Freizügigkeit im ganzen Reiche. Jeder hat das Recht, sich an beliebigem Orte des Reichs aufzuhalten ..." Mithin der aus der Festung entlassene Toller: im Freistaate Bayern. Ob es ratsam, ob es ihm ein Vergnügen gewesen wäre, in Bayern zu bleiben, das steht auf einem andern Blatt; worauf es hier ankommt, ist: daß er das Recht besaß. Den Ausländer darf ein deutsches Land ausweisen, den Reichsangehörigen nicht. Toller ist Reichsangehöriger; von Geburt. Die Hypothese, daß ein nichtbayrischer Deutscher in Bayern "landfremd" sei, schlägt der Text der Verfassung des Deutschen Reiches zu Schutt. Toller ist Preuße. So wenig ein Preuße aus Preußen, so wenig kann er aus Bayern gewiesen werden. Die Regierung, die ihn ausweist, bricht die Verfassung. Eine nichtswürdigere Tat als den Verfassungsbruch kann eine Regierung kaum begehen. Von Nichtswürdigkeit dürfte nur dann nicht gesprochen werden, wenn die Regierung die Verfassung aus Unkenntnis bricht. Ich erachte mich nicht für berechtigt, anzunehmen, daß die Lenker Bayerns Trottel sind. Die allgemeine Unbegabtheit monarchischer Staatsleute im heutigen Deutschland zugegeben, wäre es doch beleidigend, ihre Ignoranz für so weitgehend zu halten, daß die fundamentalsten Bestimmungen der Verfassung, unter der sie leben, und durch die sie leben, ihnen (Staatsmännern!) fremd geblieben. Sind es Trottel, so gehören sie ins Privatleben. Ich bin aber überzeugt, daß es nicht Trottel, sondern kalte, überlegende, skrupellose, abgefeimte Rechtsbrecher sind. Und dann gehören sie gewiß ins Privatleben - vielmehr ins Gefängnis.
Ich will hier nicht ethische Wünsche, sondern juristische Notwendigkeiten äußern. Wohin, was dieses Bayern betrifft, mein ethischer Wunsch geht - na. Um aber juristisch zu bleiben: Ins Gefängnis gehört, wegen des Ausweisungsbefehls, exaktermaßen zwar nicht die gesamte bayrische Regierung, aber der Staatsbeamte, der ihn erteilt hat. Man muß ausforschen, ob es der Minister des Innern war oder wer sonst. Die Person ist schon deshalb höchst gleichgültig, weil es, nach Lage der Dinge in diesem Bayern, ebensogut auch jede andre Person hätte sein können als die, die es war; aber daß sie hinter Schloß und Riegel gelange, fordert das Recht.
Das deutsche Strafgesetzbuch ist nicht meine Liebe; denn es ist so alt wie Raabes ‚Schüdderump' und Lindners ‚Bluthochzeit' und macht Manchen elend, der vor der Vernunft schuldlos ist (und Manche); da verlange ich denn wenigstens, daß es dort unbedingt Anwendung finde, wo Die, die es zu treffen trachtet, wirklich Schuldige, Strafwürdige sind. Der bayrische Staatsbeamte, der die Ausweisung Tollers verfügt, der ihm, durch die vollziehenden Organe, während der Abschiebung sogar den Einkauf einer Tasse Kaffee oder eines Butterbrots im Wartesaal eines bayrischen Bahnhofs zu verbieten die Stirn hatte, hat sich damit ... ich untersuche nicht, ob gegen ungeschriebene Normen menschlichen Elementaranstands, aber ohne Zweifel gegen die Paragraphen 239, 240 und 339 des Strafgesetzbuchs vergangen. § 239 bestraft mit Gefängnis Den, der "vorsätzlich und widerrechtlich einen Menschen ... des Gebrauches der persönlichen Freiheit beraubt" (daß "widerrechtlich" zutrifft, beweist die Reichsverfassung); § 240 ist der bekannte Nötigungsparagraph: "Wer einen Andern widerrechtlich durch Gewalt ... zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt, wird mit Gefängnis bis zu Einem Jahre oder mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark bestraft" (widerrechtliche gewaltsame Nötigung zum Verlassen Bayerns; zur Unterlassung des Kaufs einer Erfrischung im Wartesaal); und § 339: "Ein Beamter, welcher durch Mißbrauch seiner Amtsgewalt oder durch Androhung eines bestimmten Mißbrauchs derselben Jemand zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung widerrechtlich nötigt, wird mit Gefängnis bestraft." (Jemand ausweisen, für dessen Ausweisung der Rechtsgrund fehlt, weil Jener laut Verfassung gar nicht ausgewiesen werden darf - wenn Das nicht Mißbrauch der Amtsgewalt ist, dann weiß ich nicht, wann Mißbrauch der Amtsgewalt je vorliegen könnte!)
Ich melde den Fall hierdurch dem bayrischen Justizminister (Dr. Gürtner, deutschnational) und fordere ihn auf, die ihm unterstellte Staatsanwaltschaft anzuweisen, den Schuldigen ausfindig zu machen und dafür zu sorgen, daß er ins Kittchen kommt. Recht muß Recht bleiben. Wer als Staatsbeamter in Deutschland der Verfassung der deutschen Republik spottet, ist uns Schindluder und Spucknapf.

Pour le mérite
WB, Jg.21, Nr.2, 13.Januar 1925, S.70/71


Liebe Mit-Mitarbeiter der ‚Weltbühne', ich schlage euch vor: Schließen wir uns schleunigst zu einer Freien Vereinigung der Publizisten und Poeten zusammen und verleihen wir einander (und andern Schriftstellern, die uns passen) den Schwarzen Adlerorden! Jawohl. Wie? Übergeschnappt bin ich? Der Affe hat mich gelaust? Mich jedenfalls nicht heftiger als andre Leute; hochernste. Steht in den Zeitungen doch zu lesen, daß der Komponist Hans Pfitzner in München und der General v. Kuhl in Berlin zu Mitgliedern der Freien Vereinigung von Gelehrten und Künstlern gewählt worden sind und den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste erhalten haben. ("Erhalten".) Das steht so da, als ob daran nichts weiter wäre, und als sei jedem Gebildeten die Freie Vereinigung von Gelehrten und Künstlern so bekannt wie die Sezession, die Schlaraffia, der Stahlhelm, der Verein Berliner Presse oder die Académie Française. Nicht zu Silvester stands drin, sondern mitten im ernsten Januar. Und doch recht scherzhaft; denn "Orden und Ehrenzeichen dürfen vom Staat nicht verliehen werden", sagt Artikel 109 der Reichsverfassung. Wer hat ihn nun verliehen, den Pour le mérite? Daß sie ihn "erhalten" haben, verrät die Notiz; von wem, verschweigt sie mutig. Etwa vom König von Preußen, welcher ihn früher verlieh? In dieser Republik ist Alles möglich; schließlich, wenn Rupprecht Paraden abnimmt, warum sollte Wilhelm nicht Orden verleihen? Wahrscheinlich ist es aber kaum. Von Ebert? Der würgt nur Streiks ab, Aktionen gegen das Morden; Bestimmungen gegen Orden befolgt er sicherlich treu. Vom preußischen Ministerpräsidenten Braun? Das kommt nicht in Frage. Aber vom Präsidenten der Seehandlung? Ausgeschlossen. Also von wem, von wem, von wem haben Kuhl und Pfitzner den Zierat "erhalten"? Ich wette zehn gegen eins: von jener Freien Vereinigung von Gelehrten und Künstlern, die so tut, als setzte sie sich als bekannt voraus. Vielleicht besteht sie aus den Koryphäen, die Wilhelm der Kennerische zu Rittern dieses Ordens geschlagen hatte, und pflanzt sich jetzt durch Kooptation fort? Ein Zustand von Areopag! Da die Verfassung dem Staat das Ordenverleihen verbietet, darf ein witziger Kopf schließen, daß sie's Privaten erlaubt; sodaß jetzt Honoratiorenvereine Orden austeilen können, auch Orden mit Tradition und Patina, ohne einen Strafbefehl wegen groben Unfugs zu gewärtigen. Aber was dem Honoratiorentisch recht ist, muß der Bank der Spötter billig sein. Wir wollen die Probe aufs Exempel machen; gründen wir geschwind eine Genossenschaft und verleihen wir uns den Schwarzen Adlerorden! Wer macht mit?

Wir brauchen eine Zeitung
WB, Jg.23, Nr.20, 17.Mai 1927, S.776-780


Exzelliert unsre Tagespresse in Wahrhaftigkeit? Die Wahrheitsquote der venezolanischen wird noch niedriger sein. Exzelliert sie in Zielklarheit, Wegklarheit, Kampfzähigkeit? Durch Wegklarheit zeichnet sich, glaub ich, auch die kommunistische nicht aus. Und die andre - wo gibt es da einen ernsthaften, einen zähen, einen unermüdlichen, einen unerbittlichen Kampf? Man will leben; nicht kämpfen; kämpfen nur, insoweit es die Bequemlichkeit nicht stört. Ach, wenn es wenigstens eine Aufrollung der zentralen, der entscheidenden Probleme in der Presse gäbe! Aber das am wenigsten. Vor dem Denken müssen die Leser bewahrt bleiben! Zwar wird ein schwummriger Essayismus gelegentlich kultiviert, tieftuendes Gebildetengeschwätz ohne Zielidee, ohne Randschärfe der Begriffe, Aesthetelei, die vom Wesentlichen ablenkt, ethisches Geschwafel, das zu nichts verpflichtet - man kennt diese Prominenten-Beiträge in den Oster-, Pfingst-, Verfassungstags-, Weihnachts- und Neujahrs-Nummern. Das ist Schöngeisterei, nicht Geist. Schöngeisterei: etwas vielleicht noch Ungeistigeres als die runde, pralle, deftige Ungeistigkeit; denn diese will nicht mehr scheinen, als sie ist; jene täuscht Geist vor und kompromittiert ihn damit. Die Redakteure glauben, mit Schöngeisterei, die sie bei Gelegenheit bringen, das Dekorum zu wahren: das Ansehen ihres Blattes als eines Kulturbronnens. Es quillt aus diesem Bronnen aber ganz etwas anderes als Kultur, nämlich Einschläferung. Das schlechtere Ich des Lesers, das faule, neugierige, sensationslüsterne, wird freilich auf geschickte Art immer wieder angekitzelt; das bessere Ich, das ewig junge, mit seinen auf Umgestaltung der überalterten Gesellungsordnung der Menschheit gerichteten, mehr oder minder bewußten, mehr oder minder verdrängten Tendenzen wird chloroformiert. Schickt mal ein Schriftsteller ein Manuskript, in dem tiefer gebohrt, in dem Wesentliches herausgeschält, in dem entscheidende Fragen ohne Rücksicht auf geläufige Schlagwörter präzisiert oder gar mit scharfer Umrißlinie eindeutig beantwortet werden - dann heißt es, diese Darlegungen seien zwar äußerst interessant und wertvoll, aber sie seien viel zu schwierig für die breite Masse der Leser, als daß die Redaktion sich entschließen könnte, sie abzudrucken. Erst wenn der Verfasser sehr berühmt geworden ist, und das fällt fast immer mit dem Erlöschen der Produktivität zusammen, druckt ihn die Zeitung - ihn, das heißt sein steriles Geplätscher, seinen Edelsabber.
Nun ist keine These so gemein wie die, daß der Kaviar nichts fürs Volk sei. Worauf es ankommt, ist: Auslese. Man muß die Wertvollen aus allen Ständen holen. Der gebildete Spießer versteht Fremdwörter, aber sperrt sich gegen Gedachtes; der geistiggewillte Proletarier nimmt Gedachtes auf - über die Schwierigkeiten der Fremdwörter hinweg; der Fremdwörter und andrer bildungsmäßiger Voraussetzungen. Ein gewisses Maß dieser Voraussetzungen bleibt sicher unentbehrlich, und hier zeigt sich wieder einmal die Ecke, wo Kulturpolitik und Wirtschaftspolitik zusammenstoßen: es ist die Ecke des Achtstundentags. Der Proletarier muß Zeit haben zum Geiste; der Spießer, und wenn er vierundzwanzig Stunden am Tage Zeit hat, wird für den Geist nicht empfänglich werden.
Worauf es ankommt, ist: Auslese. Welch ein Fest, an diesem Werk zu wirken! Welch eine Genugtuung, durch tägliche publizistische Strategie und Kleinarbeit zäh die Schar zu sammeln, die siegen soll und siegen wird!
Hätten wir nur Raum, wir würden bald Hunderttausende überzeugen! Hätten wir nur freies Feld, wir würden schon rennen! Aber Raum, freies Feld, freie Bahn, fair play im Wettbewerb - grade dies gewährt uns die machthabende Gesellschaft, gewähren uns die machthabenden Klüngel nicht. Meiner Kenntnis entzieht sich, wie im sozialistischen Idealstaat die Presse aussehen wird; falls die Zeitungen etwa sozialisiert sind, wer dann die Presse der Opposition bezahlt. (Daß es auch im Idealstaat eine Opposition geben muß, versteht sich!) Aber diese Fraglichkeit darf weder unsern Willen zum Sozialismus lähmen, noch uns in der Kritik an der Gegenwartspresse beirren. Diese erfüllt ihre erzieherische Aufgabe (und neben der Funktion der Tatsachenübermittlung kann sie keine andre Aufgabe als die der Erziehung haben) ... sie erfüllt diese Aufgabe weder auf der konservativen noch auf der oppositionellen, weder auf der bürgerlichen, noch auf der revolutionären Front. Auch unsre revolutionäre Presse - wie eng, wie kleinzügig, wie ungeistig, wie im Grunde bürgerlich und konservativ ist sie! Die Furcht der Redakteure, ein Text sei für die Leser zu schwierig, schließt von der eignen Dummheit auf den Geisteszustand von Leuten, die oft turmhoch über den Journalisten stehen, wenn sie auch Arbeiter sind. Das ist die wahre Überheblichkeit, diese Redakteursüberheblichkeit, die dem Leser nichts zutraut. Weil die Herren nicht schreiben können, meinen sie, der Leser könne nicht lesen. Jedoch selbst die Dummheit des dümmsten Lesers reicht nicht an den Stumpfsinn des Redakteurs heran, der seine erbärmliche Redaktionsführung mit ihr entschuldigt. Im übrigen hat jede Zeitung die Leser, die sie verdient. Das allgemeine Niveau der Deutschen läge höher, wenn der erzieherische Wille der Zeitungen im allgemeinen stärker und ihr erzieherisches Können größer wäre. Die Zeitung ist die Schule der Erwachsenen ... oder sollte es sein. Sie hat das Volk zu gestalten, aber nicht sich von ihm, das heißt von den niedrigsten Instinkten seiner niedrigsten Typen: von der Denkträgheit und Sensationsgier der Philister aller Klassen und Alter, gestalten zu lassen.
Das politische Leben der Parteien bedeutet Erstarrung. In Dogmen, die vielleicht nie richtig waren, wird ein Sozialstoff gepreßt, der, selbst falls sie dereinst richtig gewesen sein sollten, heute nicht mehr hineinpaßt. Von den geistigen Bewegungen schließen die Parteien sich ab. Die objektive intellektuelle Entwicklung geschieht außerhalb ihrer und meistens gegen sie. Sie wird von Bünden getragen oder von losen Gemeinschaften und Gefolgschaften. Aber die Zeitungen sind Parteizeitungen - von verschwindenden Ausnahmen abgesehn.
Somit scheint mir, daß nichts in gleichem Grade nottut wie die Schöpfung eines großen Tage-Blattes, das ohne Parteibindung scharf linke Politik treibt, eines Blattes für Arbeiter der Faust und der Stirn, von Arbeitern der Stirn geleitet und geschrieben. Geschrieben! Das heißt: weder gesinnungstüchtig hingestammelt noch gesinnungslos hingeglitzert. Weder Spießbürgerei noch Schöngeisterei. Weder sektiererisch-engstirniger Fanatismus noch weitherzig-flauer Opportunismus. Revolutionäre Stoßkraft ohne Klamauk; geistige Gediegenheit ohne Selbstbeschau. Ein Keil ins Gegebne - aus härtestem Holz und wunderbar poliert, so wunderbar, daß von den Reflexen des Lichts die Welt erhellt wird.
Nach der Topographie des politischen Alltags müßte diese Zeitung links vom "Vorwärts" und rechts von der "Roten Fahne" ihren Standort haben; sie müßte die wertvollen Kräfte beider Arbeiterparteien zu sammeln und zu einigen suchen, und nicht der beiden Arbeiterparteien nur. Das Sprachrohr müßte sie werden der feurigsten Temperamente und schärfsten Intelligenzen in der pädagogischen, in der sexuellen, in der Rechtsreformbewegung, in der Friedensbewegung, in den revolutionären Strömungen der Philosophie, der Psychologie, der Künste. Die Einheit aller kulturell-radikalen Vorstöße müßte durch sie bewiesen, müßte in ihr symbolisiert sein, und die Einheit der kulturellen Radikale mit der wirtschaftlichen. Eine Enzyklopädie, gleich jener französischen des Achtzehnten Jahrhunderts, nur nicht in Foliantenform, sondern in täglichen Blättern, der Inhalt stets an die Tagesereignisse angeschmiegt. Enzyklopädie - insofern alle revolutionären Geister der Zeit ihre Mitarbeiter wären, und hoffentlich auch insofern, als sie die geistige Vorbereitung eines Ereignisses sein würde, das für unser Jahrhundert die Bedeutung jenes großen Ereignisses im achtzehnten hätte, dessen geistige Vorbereitung die ‚Encyclopédie' war.
Ist dies ein Traum? Ich weiß, daß sich Hunderttausende nach einer solchen Zeitung sehnen. Sie wäre das Blatt des linken Flügels unsrer Generation; nämlich auch eine Generationsfrage ist sie. Die mit Leidenschaft fortschrittlich gesinnten Deutschen zwischen siebzehn und fünfundvierzig Jahren, jene, die zum Neunten November halten und das Werk, das damals begonnen wurde - schlecht begonnen und längst unterhöhlt -, sichern und besser fortsetzen und vollenden wollen, ... diese Deutschen sind ohne Zeitung. Es fehlt also nicht der triftige Grund - sollte der Wagemut fehlen, sie ins Leben zu rufen? Der Stamm derer, die sie schreiben würde, ist beisammen; die Gemeinschaft der Könner mit gleicher Ziellinie ist nicht schwach an Zahl. Das Blatt würde sich zum "Vorwärts" verhalten wie die "Weltbühne" zur "Gartenlaube"; es würde schon durch die Akkumulation von Kräften, die es darstellte, durch seine innre Form ein ungeheures Aufsehen erregen. Der Erfolg könnte nicht ausbleiben; denn das Publikum ist hier längst vorhanden und wartet. Das Scherzwort bei Neugründungen "um einem dringenden Bedürfnis abzuhelfen" würde hier einmal ohne ironischen Beiklang gelten.
In der kapitalistischen Wirtschaftsordnung ist dergleichen nicht ohne Kapital zu machen, also nicht ohne Kapitalisten, also nicht ohne Hilfe von Leuten, gegen deren Klassen-Interesse das Unternehmen gerichtet wäre; aber es wäre nicht gegen ihr individuelles Interesse gerichtet; denn es wäre ja ein Geschäft! Und das ist am Ende kapitalistische Denkart: das individuelle Wirtschaftsinteresse höher zu stellen als das Klasseninteresse. Ein Pessimismus von dieser Seite her rechtfertigt sich demnach nicht.
Anderwärts, etwa in Paris, gibt es dergleichen Zeitungen in Fülle. Blätter ohne Parteifessel, in denen politisch bemühte Intellektuelle aller Spielarten schreiben, von der bürgerlichen Linken über die sozialistischen Lager bis in Anarcho-Gefilde hinein; Blätter, die von Leben und Geist strotzen und sprühen; die von der ersten bis zur letzten Zeile "geschrieben" sind. Frankreichs politische Kultur ist älter als ein Jahrhundert; Deutschlands beginnt grade, zu sprießen. Wir müssen die Erde pflegen, damit der Baum wachsen kann. Man kann dem Wachstum nachhelfen.
Unsre Zeitung würde bei äußerster Klarheit der politischen Linie, bei äußerster Intransigenz der Führung alles andre als kleinlich und exklusiv sein. Sie würde Gegner zur Mitarbeit einladen und eine Arena sein, in der die lustigsten Turniere stattfänden. Heute geschehen die Polemiken zwischen Zeitung und Zeitung fast nie sachlich, fast immer unter Verfälschung oder zumindest unzulässiger Vereinfachung der Ansicht des Gegners; spricht der Gegner in unserm eignen Blatt, dann ist fair play da, und ein dialektischer Sieg über ihn bedeutet dann wirklich seine Niederlage.
Vielleicht würde die dringendste innerpolitische Aufgabe Deutschlands: die Schmiedung der proletarischen Einheit, längst erfüllt sein, wenn es eine Zeitung gegeben hätte - eine Zeitung von Rang, versteht sich -, in der die Wortführer der Sozialdemokraten und die der Kommunisten vor aller Augen miteinander gerungen hätten: jeder genötigt, den Gegner bei aller Schärfe anständig, nämlich sachlich, zu behandeln; auf seine Gegengründe zu hören; auf sie einzugehen; sich mit ihnen kritisch abzufinden, statt es sich bequem zu machen; der Person des Gegners die Ehre zu lassen; niemals Argumente durch Schimpfreden zu ersetzen; kurzum: einen vielleicht unerhört heftigen, aber unerhört geistigen Kampf zu führen. Das wäre intellektuell nicht so billig gewesen wie das Gekeif, das wir kennen; aber die Unkosten hätten sich gelohnt; man wäre im Ringen zur Einigung gekommen. Die Gemeinsamkeit des Ziels wäre herauspräpariert worden; sie hätte aufgeleuchtet und hätte die Verschiedenheit der Auffassungen vom Wege ins rechte Licht gerückt. Diese Verschiedenheit wäre nicht geschwunden, aber sie wäre geschrumpft - in ihrer Bedeutung nämlich; und man hätte erkannt, daß Differenzen, die im Rahmen einer und derselben Zeitung möglich sind, auch im Rahmen einer und derselben Partei bestehen können. Sie würden das Leben der Partei frischer, fruchtbarer, reicher, anziehender machen ... und nur dann eine Gefahr für die Partei bedeuten, wenn einer der beiden Flügel in Augenblicken der Entscheidung sich der internen Demokratie nicht beugt. Die (wirtschaftlich und kulturell) revolutionäre Einheitspartei mit innrer Demokratie - die gilts zu schaffen.
Vielleicht würde man das schon längst erkannt haben, und vielleicht hätte Deutschland heute ein andres Gesicht, wenn in den kritischen Jahren nach 1918 eine große unabhängige Zeitung der Linken, ein scheuklappenloses, junges, lebendiges Blatt revolutionärer Diskussion existiert hätte, zielklar und unspießig, voll proletarischer Kraft und von geistiger Geschmeidigkeit. Dies Vielleicht gilt auch für die Zukunft.

Gutsbesitzer
WB, Jg.24, Nr.30, 24.Juli 1928, S.147


In einer Anfrage an die preußische Staatsregierung zählt die kommunistische Landtagsfraktion Fälle grober Mißhandlung von Landarbeitern durch ost-preußische Agrarherren und dero Inspektoren auf. Ein Fall: Herr von Lauenstein auf Maldwin stellt einen Landarbeiter aus dem Rheinland zur Rede, weil er vor Herrn von Lauenstein auf Maldwin die Mütze nicht tief genug gezogen habe, und schlägt ihm mit den Worten "Euch roten Rheinländern werde ich helfen" die Peitsche ins Gesicht.
Ich befürworte nicht: unverzügliche Selbsthilfe des Landarbeiters; weil ich nicht wünschen kann, daß er sich noch unglücklicher macht, als er unter dieser Ordnung schon ist. Indes ich meine: Herr von Lauenstein auf Maldwin hat völlig recht, zu handeln, wie er gehandelt hat, solange das Deutsche Reich oder Preußen sich nicht aufrafft, einen muskulösen Kommissar nach Maldwin zu entsenden, der Herrn von Lauenstein auf den Hof beordert, sämtliche Knechte, Mägde, Tagelöhner, Aufseher um ihn herumstellt, in einigen kritischen, aber gemeinverständlichen Worten die Lage skizziert und, mit dem Satz "Euch schwarzweißrotem Herrenpack wird die Republik helfen", ihm den Ochsenziemer feierlich, doch kräftig in die Fresse wirbelt.
Solche Verfahrensart hätte wenig mit Rechtsstaat zu tun; aber nichts, was mit Rechtsstaat zu tun hat, imponiert diesem Besitzergesindel. Nichts. Ihm imponiert nur, was - um mich eines wissenschaftlichen Ausdrucks zu bedienen - knorke ist. Wir brauchen, jawohl, fascistische Methoden aus antifascistischen Geist. Dieser Hektarpöbel ist allein durch die Arbeiterfaust zur Räson zu bringen. Und in Staaten, deren Kabinette und Innenministerien von Führern der proletarischen Klasse geleitet werden, da könnten, sollten, müßten Arbeiterfaust und Staatsfaust Einunddasselbe sein. Wozu sonst der Wahl-Lärm?
Übrigens: Was dem Kartoffeljunker hinter der Oder recht ist, das ist dem Schlotjunker an der Ruhr billig ... und auch dem Mänteljunker an der Spree.

Neutralisierung Deutschlands?
WB, Jg.25, Nr.43, 22.Oktober 1929, S.614-617


Den großen Erfolg haben bei uns die Bücher, die darstellen, was war und ist. Hauptbeispiel: die Kriegsbücher. Mehr oder minder oberflächliche, mehr oder minder "künstlerische" Reportage - je tendenzfreier, desto höher die Auflage. Man sollte annehmen, es langweile den denkenden Leser, dauernd zu hören: dies und das geschah, so und so ists gewesen; er wünsche statt der Abschilderung des Grauens, oder wenigstens nach ihr auch zu erfahren, was zu tun sei, damit es sich nicht wiederhole; just Das erfährt er bekanntlich in den bekannten Büchern nicht! Man sollte annehmen ... Die Annahme trifft zu, nur die Hypothese vom denkenden Leser greift fehl. Es gibt, lieber Leser, sehr wenig denkende Leser; so wenig beinahe, wie es denkende Schreiber gibt. Und heutzutage weniger denn je! Denn während früher, etwa im achtzehnten und noch bis tief ins neunzehnte Jahrhundert hinein, immerhin die Oppositionen im Denken stark waren, gehört es heute zur Metaphysik und zum guten Ton der Opposition, auf Denken kein Gewicht zu legen: da ja den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß nicht das Denken bedinge, sondern "die Produktionsweise des materiellen Lebens". Nicht der Wille wollender Menschen forme die Gesellschaft, mache Geschichte, sondern die Wirtschaft sei es, die den Willen forme - eine Lehre, deren, wird sie hartnäckig gepredigt, traurigster Erfolg der ist, daß sie allmählich beginnt, zu stimmen. Noch hundert, zweihundert Jahre materialistischer Agitation: und die nichtwirtschaftlichen Triebfedern menschlichen Handelns sind wirklich verrostet. Das wäre der konterrevolutionärste aller möglichen Zustände; welch eine Paradoxie, daß Revolutionäre es sein würden, die ihn verschuldet hätten!
Einstweilen hält den Bau der Menschenwelt, neben Hunger und Liebe, (auch die Liebe vergißt der Ökonomist!), noch Philosophie zusammen; in die Geschichte fließt der Gedanke - jawohl: der Gedanke - und gestaltet an ihr. Lenin, Mussolini: ihre Wirkung beweist es. Und so pessimistisch wir die auf "Organisierung des Friedens" abzielende Geschäftigkeit der Weltdemokratie zu beurteilen haben - sie ist geschichtliche Realität; der Friedensgedanke füllt einen erheblichen Raumteil des Bewußtseins moderner Gesetzgeber und Staatenlenker; mitgestaltend am Schicksal der Menschheit wirkt eine Idee, ein "ausgeklügeltes" Postulat von "Ideologen"; der ethico-politische Gedanke der Penn, Saint Pierre, Voltaire, Rousseau, Kant, der Victor Hugo, Tolstoi, Bertha von Suttner, Fried und all der andern Kirchenväter und -mütter des Pazifismus hat aufgehört, nur Literatur zu sein. Er hat sich den Hirnen der Praktiker und Realpolitiker eingeätzt, selbst mindern Hirnen; sogar dem Bewußtsein von Industriellen, Journalisten und Diplomaten hat er sich aufgezwungen.
Also sollte doch wohl der Kurs des Denkens wieder steigen! Also sollten doch wohl Schriften, in denen nicht bloß Ursachen erforscht, sondern auch Ziele gesetzt, nicht bloß Tatsachen gezeigt, sondern auch Wege gewiesen werden, Wege, wie die Gesellschaft diesen Tatsachen entrinnen könne, wieder ihr Publikum finden! Die zentralen Großfabriken der Bildung, die riesigen Influenzmaschinen der öffentlichen Meinung - leider stehn ihre Bediener gemeinhin auf diesem Standpunkte nicht. Sie produzieren donnernd den deskriptiven Edelkitsch. Die normativen, die denktüchtigen, die zielsetzenden, wegweisenden Schriften ereignen sich geräuschlos an irgendeiner versteckten Stelle; zu Dessau etwa, im Verlag der Volksblatt-Buchhandlung.
Dort hat jetzt Gerhart Seger eine Broschüre erscheinen lassen: "Deutschland eine zweite Schweiz? Neutralisation als Kriegsverhütung." Seger, linker Sozialdemokrat mit gutem Pazi-Training, macht hier einen Vorschlag, der zunächst paradox klingt und an das Geräusch erinnert, das Kolumbus erzeugt haben muß, als er sein berühmtes Ei auf die Spitze stellte, der aber von schlichter Vernünftigkeit ist wie nur irgend eine der klassischen Erfindungen der Technik.
Die Schweiz ist "neutralisiert". Was heißt das? Es heißt: Keinem Staate darf sie den Krieg erklären; an keinem Kriege Dritter darf sie teilnehmen; kein Bündnis darf sie eingehen, das sie zur Kriegführung unter bestimmten Voraussetzungen verpflichten könnte; in Krieg und Frieden darf sie keine andre Politik treiben als die strengster Neutralität - und dafür genießt sie die Gewähr, daß ihre Neutralität unter allen Umständen respektiert wird. Eine Garantie, so zuverlässig, wie eine Garantie auf dieser Erde sein kann. Wer leistet die Garantie? In erster Linie jene Staaten, die die Neutralisierung der Schweiz untereinander und mit ihr selbst vertraglich vereinbart haben (die Großmächte des Wiener Kongresses, 1815); ferner: die im Vertrag von Versailles, 1919, die Neutralisation anerkannten; schließlich auch die Staaten, die ihre Zustimmung dazu stillschweigend erteilt haben.
Die Neutralität eines neutralisierten Staates zu brechen - das ist nach der zwischenstaatlichen Moral, die bereits 1914 gegolten hat und die heute erst recht gilt, keine Kleinigkeit. Der Täter eines so schweren völkerrechtlichen Delikts riskiert, sich die Feindschaft der ganzen Welt zuzuziehen; man denke an die Verletzung der Neutralität des neutralisierten Belgien durch Deutschland! Die Neutralitätsgarantie bedeutet also wirklichen Schutz. Stärkern Schutz als ein Heer.
Der Hauptwert der Segerschen Schrift besteht in dem mit meisterlicher Dialektik geführten Nachweis, daß, jenseits aller ethischen und politischen Erwägungen, rein technisch betrachtet, "Landesverteidigung" heute Mumpitz ist. Es gibt keine; technisch, kriegstechnisch gibt es keine. Denn:
Der Angriff im nächsten Kriege wird vor allem der Luftangriff sein; der Luftangriff, welcher Grenzen zur Belanglosigkeit, Schützengräben zur Farce macht; der tief bis ins Herz des Landes vorstößt, bis zu seinen Kraftquellen, bis in die dichte Mitte seiner Bevölkerung. Schutz dagegen gibt es nicht. Darüber sind sich die Sachverständigen einig. Unabweisbar sei die Erkenntnis, "daß eine Abwehr von Luftangriffen in defensivem Sinne auch von der stärksten militärischen Macht und Luftmacht der Welt nicht mehr garantiert werden kann und tatsächlich heute praktisch unmöglich ist." So Gotthard Sachsenberg, während des Krieges Kommandeur einer Fliegerstaffel, heute Direktor bei Junkers und Reichstagsabgeordneter. In England fanden Manöver statt, mit dem Ziel eines Luftangriffs auf London. "Es erscheint endgültig, daß die örtliche Verteidigung Londons von untergeordneter Bedeutung ist, daß die Verteidigungswaffe vielmehr das Bomben- und nicht das Jagdflugzeug ist, und daß die wirkungsvollste Verteidigung der Gegenangriff auf feindlichem Gebiet ist!" So wertet das Ergebnis jener Manöver Groves, britischer Brigadegeneral, der ehemalige Leiter des luftfahrttechnischen Dienstes. "Die einzige Verteidigung gegen einen Angriff zur Luft: ein Gegenangriff" - so auch der frühere englische Luftminister, Lord Thomson of Cardington. Dieser Tage grad berichtet ‚Oeuvre' von Luftmanövern über Paris. Ergebnis: "Unmöglich, die französische Hauptstadt vor den Wirkungen eines konzentrierten Fliegerangriffs zu schützen. Hundert Flugzeuge mit je einer Tonne Gasgranaten - im Verlaufe von einer Stunde wäre Paris mit Mann und Maus vernichtet." So Frankreichs militärische Sachverständige. "Der Politiker, der auf die Landesverteidigung schwört, bewegt sich also in einem circulus vitiosus. Er will nicht den Krieg, er will vor allem nicht den Krieg im eignen Lande, er will die Verteidigung an der Grenze, er will den Heimatschutz. Bereitet er aber alles das vor, begibt er sich an die Organisation der Landesverteidigung nach den modernen technischen Tatsachen des möglichen Angriffs, so wird er zum Opfer des eigenen Unternehmens: er bereitet tatsächlich den nächsten Krieg vor, und er muß die Zerstörung des eignen Landes ziemlich sicher in seine Kalkulation einsetzen - wir leben nun einmal nicht mehr im Zeitalter des letzten Weltkrieges. Die Untersuchung, ob sich die politische Aufgabe der militärischen Landesverteidigung lösen läßt, ergibt also: ja, sie ist lösbar; aber nur, wenn man bereit ist, denselben Angriffskrieg vorzubereiten, gegen den man sich grade zur Wehr setzen will ... Landesverteidigung bedeutet heute die Bereitschaft zu einem Vernichtungsfeldzug gegen das angreifende Land, ohne die auch nur partielle Möglichkeit des Heimatschutzes für das eigne Land." So Seger; und sicher mit Recht so.
Heere sind eine unwirksame Waffe gegen den Krieg. Die Neutralisierung ist wirksamer. Namentlich, wenn sie mit völliger Selbstentwaffnung Hand in Hand geht. Eine abgerüstete Nation wird nicht angegriffen werden. Angriffskriege sind nachgerade derart verpönt, daß keine einen Angriffskrieg führende Regierung heute darauf verzichten kann, ihrem Volke weiszumachen, der Krieg sei ein Abwehrkrieg. Ist das angegriffene Land neutralisiert und unbewaffnet, dann gelingt der Regierung des Angreiferstaates dieser Schwindel nicht mehr. Ein notorisch wehr-loser Staat kann nicht als Angreifer denunziert werden. Zutreffend schreibt Seger: "Wer wagt zu behaupten, daß Frankreich, England, Polen, Rußland, Italien einen solchen unzweifelhaften Angriffskrieg gegen ein neutralisiertes Deutschland zu führen bereit sind?" Keiner dieser Staaten würde das Odium einer unzweifelhaften Gewalttat auf sich nehmen. Nein, wahrhaftig nein, und demnach (mit den Worten dieses ungewöhnlichen Marxisten): "Der sicherste Schutz gegen einen Krieg ist, keinen zu führen, und die ganze Welt wissen zu lassen, daß man keinen führen wird."
Die deutschen Militaristen pflegen ihre Forderungen mit der besondern geographischen Lage Deutschlands zu begründen. Eben diese Lage spricht für Neutralisierung; wie sie für die Neutralisierung der Schweiz sprach. Die Gefahren, die ein Krieg mit sich bringt, sind für zentral gelegene Staaten besonders heftig.
Natürlich setzt die Neutralisierung eines Staates das Einverständnis der Bevölkerung mit seinem territorialen und internationalwirtschaftlichen Status quo voraus. Korridor und Young würden einem erheblichen Teil des deutschen Volks die Zustimmung zu Deutschlands Neutralisierung erschweren. Diesem Teil der Nation bliebe zu sagen: Das Leid und Grauen, das ein selbst "glückender" Versuch der Gewalt, die Grenzen zu berichtigen und das Tributjoch abzuschütteln, über unser Volk brächte, über Männer, Kinder und Frauen, würde noch unendlich größer sein als das Leid dieser Grenzen und das Grauen dieses Jochs. Der Nationalist, der bellizistische (wofern es schon kriegsgegnerische Nationalisten geben sollte), ist ohne Augenmaß; er vermag zwei Übel nicht zu vergleichen, er sieht ihren Größenunterschied nicht, oder er sieht ihn verkehrt; innig gewillt, seiner Nation zu dienen, fügt er ihr den schwersten aller Schäden zu: es ist, als wollte Doktor Eisenbart, um den Patienten von einer Kieferfistel zu kurieren, zur Keule greifen und ihm den Schädel zerschmettern.
Ich sehe gegen Segers Vorschlag einen einzigen Einwand, und der ist keiner: Warum soll ausgerechnet Deutschland neutralisiert werden? In der Tat, warum? Warum nicht auch Frankreich, nicht auch Polen, nicht auch der Rest der Welt?
Aber er soll es, er soll es! Wir haben nichts dagegen und alles dafür. Ein Riesensystem von Neutralisationen: gelingt auf diese Weise die Aushungerung des Kriegsgotts - nur zu! Daß die Methode einen Stich ins Komische hätte, hielte uns nicht ab, zur Siegesfeier zu erscheinen. Ist allen Garanten einer Neutralität selber die Neutralität garantiert und gehört zur Neutralisierung die Abrüstung, so kann zwar keine Garantie mehr vollzogen werden, aber es entfällt auch jedes Bedürfnis nach dem Vollzug. Wären wir nur erst so weit! Damit der Beobachter droben auf dem andern Stern aufhörte, uns auszulachen, weil wir uns gegenseitig erwürgen, obwohl doch die Freude ohnehin so kurz ist.

Die Schuldigen strafen
WB, Jg.27, Nr.31, 4.August 1931, S.165/166


Das Palladium der Demokratie ist die Pressefreiheit. Der Revolutionär begreift, daß Leiter eines revolutionären Staats sich gezwungen sehn, die Pressefreiheit vorübergehend aufzuheben, um die werdende neue Ordnung zu schützen vor Attacken der alten Mächte; niemals aber kann erhaltenden Verwaltern des Alten das Recht zugestanden werden, die Funktion der Kritik an ihren eignen Handlungen, diese wichtigste Funktion des Volkskörpers, zu hemmen und zu unterbrechen. Die Notverordnung vom 17. Juli bedeutet eine solche Funktionshemmung. Der schwer erkrankte deutsche Volkskörper wird mittels dieser Therapie nicht zur Gesundung gebracht werden; im Gegenteil, neue Eiterherde müssen sich bilden, die Fieberkurve muß steigen. Wer seine Nation liebt, ist ihr verpflichtet, das auszusprechen - in Ruhe und auf jede Gefahr hin.
Paragraph 1 der Verordnung enthält Berechtigtes. Der Regierung soll Redefreiheit zustehn in allen Zeitungen und Zeitschriften. Wozu wäre eine Regierung schließlich Regierung, wenn sie nicht die Möglichkeit haben sollte, sich sämtlichen Lesern des Landes zu offenbaren; wenn sie nicht die Macht haben sollte, Mißverständnissen und Lügen überall entgegenzutreten, wo sie auftauchen: also rechts, links und in der Mitte. Unser öffentliches Recht enthielt hier eine Lücke; die Notverordnung beseitigt sie. (Nicht ohne Schönheitsfehler.)
Ganz anders Paragraph 2. Hiernach können Druckschriften beschlagnahmt, eingezogen und, falls es periodische sind, bis zu sechs Monaten verboten werden, "wenn durch ihren Inhalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet wird".
War je ein Rechtssatz Kautschuk, dann dieser! Was heißt Sicherheit, was Ordnung, was Gefährdung? Mag der Satz theoretisch und nach den beschwichtigenden Erklärungen sozialdemokratischer Würdenträger das Harmloseste bedeuten: praktisch bedeutet er unzweifelhaft, daß die Regierung jede ihr unbequeme Meinung unterdrücken, jede ihr unangenehme Kritik verhindern kann. Die Regierung - das heißt nicht nur die mittelparteiliche Reichsregierung der Gegenwart, sondern auch eine ihr etwa nachfolgende nationalistische; nicht nur die Reichsregierung, sondern auch die Landesregierungen, unter denen sich ja heute schon ausgesprochen reaktionäre befinden. Triumph des "Ermessens"; Triumph der Willkür; (auch gegen Bücher). Am Boden liegt: der freie kritische Geist.
Dieser Zustand ist Vollblut-Fascismus. "Warum denn nicht?" darf einer fragen. Gut. Aber wer in Verteidigung dieses Regimes auch jetzt noch behaupten wollte, es sei Demokratie, der löge.
Zu den Artikeln der Reichsverfassung, die laut Artikel 48 außer Kraft gesetzt werden können, gehört jener Artikel 118, der das Recht der freien Meinungsäußerung statuiert. Er kann dann außer Kraft gesetzt werden, "wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird". Wird sie das zurzeit? Mag sein. Aber wer hat sie denn gefährdet, die öffentliche Sicherheit und Ordnung? Wer ist denn schuld an dieser Unruhe im Volk, an diesem plötzlichen Schwund allen Vertrauens, an diesen Zusammenbrüchen? Man soll Schuldfragen nie überbetonen; man soll der Abhilfefrage immer den Vorrang lassen vor der Schuldfrage; aber vernachlässigen darf man die Schuldfrage auch nicht. Jene Not, mit der sich die Verordnung rechtfertigt, entstand vor allem durch Zurückziehen ausländischer Kredite in beispiellosem Umfang, und dies Zurückziehen beruhte auf einer Nervosität, die ihrerseits erzeugt war durch den neuen Kurs der deutschen Politik, den man als bedrohlich empfand. Die Konzessionen an den Nationalismus: der zweite Panzerkreuzer, in keinem realen Bedürfnis dieser verarmten Nation begründet; die Zollunion, von der das Gleiche gilt; das Dulden unverblümter Kriegshetzreden, von Stahlhelmhäuptlingen nicht nur, sondern auch beispielsweise des Volksparteilers Seeckt - diese Taten und Unterlassungen der Reichsregierung ließen im Ausland das Mißtrauen entstehen, das zur Zurückziehung der Gelder führte. Und wenn nicht nur das ausländische, wenn auch das Kapital deutscher Kapitalisten milliardenweise über die Grenzen floh, so ist es wiederum die Reichsregierung, die gesetzliche Vorkehrungen dagegen zu treffen sträflich verabsäumt hatte. Daß Vorkehrungen gegen die Kapitalflucht möglich sind, beweist die Verordnung, die man zu spät erließ. (Es gäbe übrigens, freilich nur durch Abmachungen mit einigen ausländischen Staaten, die Möglichkeit drastischerer und wirksamerer Maßnahmen!)
Die Fehler der Regierung selbst sind es also, die "im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet" haben; und wenn eben jene im eminentesten Ausmaß an dem Zustand, der herrscht, schuldige Regierung sich für berechtigt hält, unter Berufung auf diesen Zustand die öffentliche Kritik an ihren Taten zu unterbinden oder auch nur einzuschränken, so wird darauf zu antworten sein, daß solche Anmaßung einiger vielleicht wohlgesinnter, aber nachweislich unfähiger Herren für die Nation in dieser Stunde untragbar ist. So sehr der anständige Publizist mit jeder Bemühung sympathisieren wird, die öffentliche Kritik zu entgiften, das bösartig-leere Schimpfen, die Fälschung und die Verleumdung aus der Presse zu rotten, so wenig kann und darf er doch hinnehmen, daß just unter den Schuldigen einer Katastrophe eine Orgie des Mangels an Selbstkritik ausbricht und daß sie, anstatt sich persönlich zu geißeln, für die eignen Sünden die Andern strafen: mit Redeverboten; mit Existenzvernichtungen. Eingeräumt, daß in Notzeiten Führer der Nation tabu sein sollen - so können doch Minister nicht deshalb als Führer gelten, weil sie grade Minister sind; und erweist sich, was hier erwiesen ist: daß eine Regierung, und seis auch bloß durch ihre Unfähigkeit, die Nation aufs schwerste geschädigt hat, dann rechtfertigt sich vielleicht, daß die Nation ihr, aber niemals, daß sie der Nation den Mund verbietet. Wir vermissen in dieser Verordnung gegen die Freiheit des Schrifttums weniger die Demokratie als die Scham; hierin sind wohl rechte und linke Opposition einig.

Linke Leute von rechts
WB, Jg.28, Nr.31, 2.August 1932, S.153-158


"Links", "rechts" - diese Unterscheidung wird täglich dümmer. Wer kommt noch mit ihr aus? Eine Periode des Gemeinplatzbebens in der Politik hat begonnen; und nur die verrostetsten Seismographen melden nichts. Verkaufen wir sie als Altblech nach dem Mond! Also sprach Börne: "Wie es unter einer Million Menschen nur tausend Denker gibt, so gibt es unter tausend Denkern nur einen Selbstdenker." Der Satz ist hundertundneun Jahre alt und dennoch so frisch, als wäre er eben vom Baum gepflückt. Er findet sich in demselben Kapitel der ‚Vermischten Aufsätze, Erzählungen, Reisen', das die ergreifende Stelle enthält: "Aber das Vaterland der Gedanken ist das Herz" und den unheimlich aktuellen Passus: "Eine schimpfliche Feigheit zu denken hält uns Alle zurück. Drückender als die Zensur der Regierungen ist die Zensur, welche die öffentliche Meinung über unsere Geisteswerke ausübt. Nicht an Geist - an Charakter mangelt es den meisten Schriftstellern ..." Seitenlang möchte man zitieren. Unter den Denkern der deutschen Vergangenheit die tüchtigsten, nämlich die tiefsten, redlichsten, schärfsten und hellsten, sind heute so gut wie außer Mode: die Kant, Lessing, Lichtenberg, Friedrich Schlegel, Fries, Schopenhauer, Börne - während hoch im Kurs alle denkerische Impotenz und Scharlatanerie steht: Magiertum und Hegelei (ihr Negativ eingeschlossen). Zwischen Mystizismus und Materialismus führt, fast auf verlornem Posten, der Kritizismus seinen heroischen Zweifrontenkrieg; keine Kraft unter den Kräften des Menschen wird vom Pöbel aller Lager heute in gleichem Grade geschmäht und gelästert wie die Vernunft. Sie wird obsiegen; aber gegenwärtig wandelt sie den Kreuzesweg.
Börne also, über das Denken ... ich unterbrach mich, wollte fragen: Wer taugt mehr, ein kommunistischer Nichtdenker oder ein nationalistischer Selbstdenker? Möge Jeder diese Frage nach seinem Privatgeschmack beantworten (oder besser: nach andern Kriterien als denen des Geschmacks); allgemeingültig scheint mir zu sein, daß Selbstdenker, mögen sie auftauchen in welcher politischen Gegend auch immer, ernster Beachtung wert sind - zumindest in einer Epoche, deren herrschende Politik-Gruppen ein so erbärmliches intellektuelles Niveau zeigen (und daher so schaurige Resultate hervorbringen) wie die großen Parteien in diesem Deutschland: jene alten Vereine, die sich in das Gesetzgebungsmonopol teilen, und jene jüngeren, ebenso fragwürdigen, die es ihnen entreißen wollen.
Vor fünf Jahren schrieb ich hier über die "Neuen Nationalisten", die Leute um Schauwecker. Sie waren wirklich neuartig, auf ihre Weise durchgeistet, keine Stammtischpatrioten, keine schwarzweißroten Rauschebärte; der für unsereinen interessanteste Abseiterkreis des Nationalismus sind sie indes heut längst nicht mehr - schon weil das Häuflein zersprengt, der Block zerstäubt scheint, die Atome verweht, neugebunden.
Und Otto der Straßer? Ein aus bemerkenswert saubern Gründen von Hitler Gewichener, die Sensation dreier Wochen - von ernsterer Bedeutung und Zukunft schwerlich, weder er noch seine Kohorte. Daß sie klein ist, bleibt belangarm; Quantitäten haben in der Kulturgeschichte noch niemals die Entscheidung gebracht. Aber da wogt alles zu gallertig; diese Mannen haben Mythos und Mystik mit Suppenkellen gegessen; statt Hosen haben sie Irrationalismus an; gehn sie im Felde des Geistes spazieren, dann blubberts und triefts; wer Kant gelernt hat, wer trocknes Denken mag (Trocknes kann knistern; siehe Seide, siehe Katzenfelle), wer Randschärfe der Begriffe liebt, dem ist dieser Stil zu feucht, zu weich, zu schlaff. "Tiefe"? Tüfe! - da es die Talmi-Tiefe Derer ist, die weder den gesammelten Geist der Vorwelt im Blute haben noch mit der Kraft gesegnet sind, selbständig einen Gedanken zuende zu denken; die zwischen Spießertrivialheit und letzter, feinster, klarster Erkenntnis auf halbem Wege im Schlamm stecken bleiben. O, ihr den Begriffsglibber Ernstnehmenden, den anspruchsvoll-ideologischen Glitschkitsch, o Hörige milchig-trüber, wolkiger, scheintiefer Fühldenkerei -: daß man vom Spiegel eines Gewässers nicht bis auf den Grund hinabsehen kann, diese Eigenschaft teilt der Ozean mit der Pfütze; also schließe man von Undurchsichtigkeit nicht gleich auf Ozean! Umgekehrt wieder wird der Schluß, was klar ist, müsse flach sein, durch manchen Bergsee widerlegt; nur Kinder verkennen, daß die bunten Kiesel, die man durch den Azur seines Wassers wie zum Greifen nahe schaut, oft in gefährlicher Tiefe ruhn.
Soviel über Straßer (Otto). Es trifft aber, zu einem Bruchteil wenigstens, auch auf jene Nationalistengruppe zu, die heute vor den andern Aufmerksamkeit für sich beanspruchen darf: die Gruppe um Karl O. Paetel. Selbstgefällig-unzulängliche Mystagogie (erklärlich durch die Herkunft aus rechtsgerichteter Jugendbewegung, aus Metawandervogelphysik, "bündischer") mischt sich da mit rühmlich energischem Willen, zur Klarheit vorzustoßen - zu einer Klarheit, die nicht simpel sondern komplex ist; die, ohne vom Goldkern des Nation-Erlebnisses einen Deut preiszugeben (welches ja nur Seelenkrüppeln fremd bleibt), sozialistisch-revolutionäre Erkenntnis wird. Flachköpfe pflegen in der Vollziehung einer Synthese die Vernachlässigung eines Widerspruchs zu erblicken; solcher Mißdeutung setzt gerade die Paeteldoktrin sich furchtlos aus. Da ihr Nationalismus von der Rassentheorie, vom zoologischen Stumpfsinn genesen und zu seelisch-geistigen Kriterien entschlossen scheint, da andrerseits ihr Sozialismus - nicht als "Religion", aber als Prinzip ökonomischer Organisation - ehrlich und echt ist (was sich in unzweideutiger Option für Sowjetrußland zeigt, als bedingungslos zu schützende Vormacht der Zukunftskultur: ein Faktor, an dem alle Außenpolitik zu orientieren sei), so würde nicht nur Böswilligkeit dazu gehören, den Paetelkreis mit den Nationalsozialisten zusammenzuwerfen, sondern auch Blindheit, zu übersehen, daß er in schärfstem Gegensatz zu ihnen steht. Denn der Nationalismus der Nationalsozialisten ist dezidiert zoologisch und ihr "Sozialismus" offen antibolschewistisch.
Nun hat die Kommunistische Partei Deutschlands, wie man weiß, seit etwa zwei Jahren eine starke Wendung zum Nationalismus vollzogen ("nationale und soziale Befreiung", "Volksrevolution", Scheringer), und die Frage liegt nahe, was denn die "sozialrevolutionären Nationalisten" um Paetel von unsern nationalrevolutionär gestimmten Kommunisten unterscheidet. Etwas sehr Wichtiges! Nämlich, daß bei den Paetel-Leuten ein (durchaus willensechter) sozialistischer Revolutionarismus frei von allem materialistischen Abrakadabra, sogar in bewußter Opposition zur materialistischen Geisteskrankheit, auftritt - ein Punkt, in dem sich die Sozialrevolutionären Nationalisten mit den Revolutionären Pazifisten berühren und mit dem ISK. Die ideologische Grundlage des kommenden, verwirklichenden Sozialismus Europas ist antimaterialistisch (Mut! neo-idealistisch); auch in Rußland wird der Sozialismus auf Generationen lebensfähig nur dann sein, wenn er sich von der materialistischen Basis löst. Man braucht bloß eine Rede Stalins zu lesen, um festzustellen, daß er in Wahrheit längst dabei ist. Aber er weiß es nicht. Alle Realisierungsschwierigkeit und -langsamkeit der sozialistischen Bewegung, alle ihre Irrungen und Entzweiungen, aller Mißerfolg ihrer Propaganda, all ihre deprimierenden Vergeblichkeiten (bei phantastisch chancenreicher objektiver Situation: jeder dritte Deutsche erwerbslos!) beruhen auf der im Fundament falschen, im Keim vergifteten sozialistischen Theorie. Das wußte als Erster Gustav Landauer; in seinem Aufruf zum Sozialismus gab ers vor einundzwanzig Jahren kund; heute ist dies Wissen (welches sich in einem Nebensatze nicht begründen läßt) schon Gemeingut Vieler; sie sind die Vorbereiter des sozialistischen Aufschwungs von morgen.
Demnach stehen die Paetel-Sozialisten, so sehr sie vom Nationalismus, von etwas zu Überwindendem, kommen, mit der Zukunft enger im Bunde als das marxistische Gros - eine Tatsache, die uns verpflichtet, der Entwicklung dieser Gruppe mit erheblicher Aufmerksamkeit zu folgen. Mit einer Aufmerksamkeit, versteht sich, die nur kritisch sein kann.
Die Gruppe publiziert gegenwärtig in der ‚Sozialistischen Nation', einem unregelmäßig erscheinenden Blättchen, das Schwierigkeiten hat, weil es Linie hat. Dünkel arrivierter Schöngeister, die auf gesicherten Tribünen geistreich Halbverbindliches äußern, wäre dieser Erscheinung gegenüber recht unangebracht. Ich empfehle Respekt vor einer von den notierten Doktrinen scharf abweichenden, antivulgären Gesinnung, die ohne Konzession und Aufweichung ihres Profils sich publizistisch durchzusetzen sucht.
Übrigens nicht die bisher erschienenen Nummern der ‚Sozialistischen Nation' sollen der Kritik zugrundegelegt werden sondern zwei Duodezbändchen, die Paetel herausgab: ‚Das geistige Gesicht der nationalen Jugend' und ‚Sozialrevolutionärer Nationalismus' (beide erschienen im Verlag Die Kommenden, Flarchheim in Thüringen).
Die erste der beiden Schriften führt die Scheidung von konservativem und sozialistischem Nationalismus folgerichtig durch. Wir sind mit Paetel in der Ablehnung des konservativen Nationalismus einig. Sein sozialistischer freilich, scheint uns, trägt noch Eierschalen des konservativen am Flaum. Schaurige Expektorationen des grotesk überschätzten Herrn Ernst Jünger werden zitiert, aber nicht abgelehnt. Etwa: "Der Krieg ist ein Erlebnis des Blutes". "Was unsere Literaten und Intellektuellen darüber zu sagen haben, ist für uns ohne Belang." "Er mag die Hölle gewesen sein - nun gut, es liegt im Wesen des faustischen Menschen, auch aus der Hölle nicht mit leeren Händen wiederzukehren." Ich werfe Paeteln vor, der schändlichen Frivolität, die hier feixt, nicht Einhalt geboten zu haben. Es mußte, wenn man so dreiste und seichte Sätze überhaupt abdruckt, unbedingt gesagt werden: erstens, daß den Krieg der Umstand nicht rechtfertigt, daß er "erlebt" werden kann, sintemalen auch Feuersbrunst, Lustmord und Raubmord erlebbar sind; zweitens, daß Herr Jünger ja selber Literat ist und selber Intellektueller, wenngleich kein sonderlich intelligenter; so daß seine These ihn selber ohrfeigt; drittens, daß es keineswegs im Wesen des faustischen Menschen liegt, aus der Hölle des Krieges überhaupt wiederzukehren. Wiederkehr ist ein Glücksfall und beweist weder Heroen- noch Fausttum. Gewiß verdient Herrn Jüngers Bekenntnis Beachtung: "Wir Nationalisten wünschen nicht zum zweiten Male mit dem Kapital in einer Front zu stehen"; aber wenn er fortfährt: sein Kreis stünde "auf der Seite des widerstandswilligen Proletariats", "um der Nation, nicht um irgendwelcher humanitärer Beglückungsideen willen", so muß dieser Antibeglücker, dieser ausgesprochene Unmensch gefragt werden, ob denn zu seinem Ideal von Nation gehört, daß ihre Mitglieder glücklos sind. Ich plädiere dafür, daß allgemein aufgehört werde, sadomasochistische Sublimationen als Politik hinzunehmen.
Es erfreut, wenn Paetel ausspricht, daß die "rein haltungsmäßige Bejahung des Sozialismus" "auch zu ganz bestimmten politischen Folgerungen" führt, "zu Berührungspunkten mit linksrevolutionärer sozialistischer Jugend" und "zu deutlichen Abgrenzungen gegenüber den politischen Einstellungen des Bürgertums"; man applaudiert, wenn man liest: "Entscheidungen müssen innerhalb der nationalen Jugend zweifellos fallen. Sie werden fallen müssen an der Fragengruppe des Sozialismus" - aber zu dieser "Fragengruppe" gehört auch die Frage des Kriegs. Sie ist, daran gibts kein Rütteln, mit einem prinzipiellen (wenn auch nicht quäkerisch "absoluten") Nein zu beantworten. Von diesem Nein fehlt in Paetels Schriften der Hauch eines auch nur fernen Klangs. Mit der "entschiedenen Ablehnung des liberalistischen Individualismus" wird ja alles Freiheitsstreben des Menschen gedrosselt, das Ewige, Heilige, Prometheische in uns, wird die seit Jahrtausenden unter furchtbaren Opfern vorwärtsschreitende Emanzipation des Individuums gehemmt, wird der Begriff des Kollektivismus über die ökonomisch-strukturelle Sphäre hinaus reaktionär erweitert. Die Freiheit der Ausbeutung aufheben und die Freiheit der Lebensgestaltung herstellen - das ist kein Widerspruch sondern ergänzt sich. In wahrem Sozialismus ist wahrer Liberalismus enthalten, wahrer Individualismus erfüllt. Weil der Manchester-Liberalismus die Freiheit Weniger durch die grausame Unfreiheit der Meisten erkauft - ein Zustand, den die sozialistische Revolution beseitigen will und soll -, darum ist Freiheit (jenseits der Wirtschaft) längst nicht erledigt. Wenn Lenin sie ein bürgerliches Vorurteil gescholten hat, so beweist das vielleicht etwas gegen Lenin und die Zulänglichkeit seines Philosophierens, es beweist nichts gegen die Freiheit. Wir werden uns von dem modernsten Schimpfwort "liberalistisch" nicht ins Bockshorn jagen lassen; wohlgemerkt: als Sozialist sag ich das! Als Sozialist, der weiß, daß Liberalismus ein Doppelgesicht hat; das vordere (kulturelle) bleibt zu liebkosen, auch wenn das hintere (ökonomische) zu züchtigen ist.
Man darf sogar sagen, daß erst die Negation des ökonomischen Liberalismus den kulturellen zur Verwirklichung bringen kann. Erst der Welt-Sozialismus, zum Beispiel, wird den Welt-Frieden schaffen: die Belehnung aller Individuen mit dem Recht auf Leben. Deswegen ists in der Ordnung, wenn - in dem zweiten dieser Bändchen (einer Sammelschrift) - Heinz Gollong seiner Gruppe rät, sich keineswegs zu rühmen, "den Pazifismus überwunden zu haben"; womit er ihm freilich kaum ein Lob erteilen will. Doch er bleibt unüberwindlich! Daß Menschen einander nicht mehr töten sollen: in Ewigkeit sittliches Ziel. Es erkennen und ihm entgegenschreiten - nichts andres ist Pazifismus. Ihr könnt die Träger dieser Idee berennen (ich helfe in manchem Falle); die Idee nicht. Die Idee nicht, ohne euch einer Sünde wider den Geist schuldig zu machen. Gerade ihr müßtet begreifen, daß an der Verewigung des Tötens zu arbeiten irreligiös ist. Ihr müßt also auch aufhören, euer Nationalbewußtsein mit einem "einschränkungslosen Bekenntnis zur Wehrhaftigkeit" zu identifizieren, wie Gollong das leider tut - sonst der feinste Kopf dieses Kreises.
"Wehrhaftigkeit" gegen wen? für wen? für was? ein "einschränkungsloses Bekenntnis"? im Zeitalter des staatlich organisierten Massenmords durch Giftgas und Bakterien? Es liegt wohl Lebensvolles und Schönes darin, mit dem Blut zu denken, mit den Muskeln zu denken, mit den Hoden zu denken; man soll aber, schlag ich vor, nicht ganz darauf verzichten, auch mit dem Gehirn zu denken. (Jüngstes, das ich von Gollong las, beweist, daß gerade er dies vorbildlich kann. Rapide Entwicklung! Übrigens verließ er die Paetelgruppe.)
Ein prachtvolles Wort steht in dem Büchlein: "Ja manchmal will uns scheinen, als hätte die Nation ... weniger wirkliche Werte verloren und mehr wirklich Wertvolles gewonnen, wenn Liebknechts schäumende Heftigkeit und sein Einfluß auf die Massen und das Ausland an leitender Stelle sich hätte auswirken können. Wenn sich der Kern der Intelligenz entschlossen auf seine Seite warf, wenn das Offizierkorps im Antimilitaristen die Kampfesnatur erkannte, hätte sich die chaotische Zeit schnell überwinden und zur Volkserhebung umbilden lassen." Wer solche Sätze druckt, hat nichts mehr gemein mit dem Mordpack, das Jenen fällte.
Ausgezeichnet klar Karl Baumann (linker Flügelmann): "Ablösung der kapitalistischen Ordnung durch den sozialistischen Aufbau. Die Verteidigung dieses Aufbaus mit allen Mitteln nach innen und außen." Das ist eine eingeschränkte "Wehrhaftigkeit", und zwar eine richtig eingeschränkte. Vorzüglich gedacht auch dies: "NSDAP und KPD heben durch ihren Kampf untereinander ihre Kraft auf. Ihr Kampf gibt dem Bürgerstaat und der Bourgeoisie das Gleichgewicht." (Dieser Baumann soll neuerdings zur KPD abgeschwenkt sein. Gewiß nicht er nur. Auch zu Hitler wird mancher sich inzwischen gerettet haben. Die Fluktuation der Personen besagt nichts gegen den Wert der Gruppe, solange sie in einer Führerpersönlichkeit den ruhenden Pol hat.)
Georg Osten, Rolf Becker, Fred Schmidt - auch sie arbeiten hier an der Herausmeißelung der reinen Dualität der Klassenfronten; obschon Einigen von ihnen der Klassenkampf ganz offenkundig nur Mittel zum Zweck der nationalen Befreiung ist und ihre Verbindung mit dem proletarischen Revolutionarismus mehr einer Verstandes- als einer Liebesheirat gleicht. Scheringer - für dessen Befreiung ich manifestiere, auch wenn ich seine Meinung nicht teile - schrieb am 8. 4. 31 an den Generalleutnant Dieterich: "Es gilt, die revolutionären Kräfte des Volkes zu sammeln, die Armee der Arbeiter, Bauern und Soldaten zu formieren und den Befreiungskrieg über die Trümmer der Weimarer Republik nach Westen zu tragen." Dies Bekenntnis eines Kommunisten geht, was seinen Gehalt an offensivem Nationalbellizismus anlangt, immerhin erheblich hinaus über die saftigsten Sätze des Paetelbreviers.
Dieses (abgerechnet die Schwafler und Glibberer: F. Wulf, Alwiss Rosenberg) bleibt die Kundgebung redlichen Ringens jugendhaft-feuriger, jugendhaft-ernster Naturen ... um den rechten Weg, nämlich den linken.
All das ist noch unfertig, wird noch, wächst noch. Unsereiner soll da, scheint mir, ohne Hochmut helfen; soll an Menschen, die selber zu denken gewohnt und, im Gegensatz zu den Marxklerikern, den Gedanken Andrer geöffnet sind, keine gebosselten Dogmen herantragen: friß, Paetel, oder stirb! Nein, so nicht; sondern: (ohne Kompromiß) in Kameradschaft diskutieren. Befürworte ich eine irenische Aufweichung unsres Kämpferknochengerüstes? Wers glaubt, wird selig. Aber von Zeit zu Zeit empfiehlt sich, allerseits, eine Revision der Riten. Und man vergesse nie, zu forschen: wo steckt im Gegner der Freund? Ich fühle mich Jedem brüderlich verbunden, der sich als rein, wahrhaftig, unabhängig, unbestechlich, als Diener am Geiste erweist; der aufrecht, doch unstarr schreitet, weil er an keine versteinerte Doktrin gefesselt ist; der den Klassenkampf auf der Seite der unterdrückten Klasse kämpft, vielmehr diese Klasse aus ihrer Zerklüftung zur Einheit, zu wirklichem Kampfe, zum Siege zu erlösen strebt; der aber weiß, daß der Prolet noch andres ist als Prolet, daß es heilige Ziele gibt noch jenseits des Klassenkampfs.

Die Reichsverfassung bricht sich selbst
WB, Jg.28, Nr.38, 20.September 1932, S.415-418


Auch bei meinen Gegnern hoffe ich nicht im Verdacht der Neigung zu stehn, mit meiner politischen Überzeugung hinter dem Berge zu halten. Also setze ich mich vielleicht keinem Mißverständnis aus, wenn ich der folgenden Betrachtung die Verkündung des eisernen Vorsatzes vorausschicke, ihr jede, auch die kleinste Beimischung politischer Tendenz fernzuhalten. Es soll nämlich eine rein staatsrechtliche Betrachtung werden; und zwar eine im Bereich der Deutung geltenden Staatsrechts, keine legislative. Über die politischen Ideen, die in der Reichsverfassung von 1919 ihren Niederschlag gefunden haben, müssen Monarchisten und Republikaner, Sowjetrepublikaner und Demokraten verschiedener Meinung sein; es gibt darüber keine irgend aussichtsreiche Diskussion zwischen ihnen; aber über die Frage der Auslegung und, damit zusammenhängend, der gesetzestechnischen Zulänglichkeit der Reichsverfassung können sich Konservative, Liberale, Sozialisten, können sich Reaktionäre und Revolutionäre bei gutem logischen Willen prinzipiell sehr wohl verständigen. Rechtsinterpretation ist etwas Andres als Rechtsphilosophie, und die juridische Kritik eines Staatsgrundgesetzes hat nicht das Mindeste zu tun mit dem, was der kleine Moritz ‚Weltanschauung' nennt.
Ja, wer eine Verfassung verfassen will, der muß seine Ansicht vom Sinn des Staats, seine Vorstellung vom Ziel des Gemeinschaftslebens, sein soziales Ideal, seine ‚Weltanschauung' (unter uns: Weltwollung) freilich einschalten; doch wer eine gegebene Verfassung verstehen, prüfen, auf gesetzestechnische Mängel ableuchten will, hat diese voluntariellen Kriterien hübsch auszuschalten; er hat nicht Ideolog, sondern durchaus nur Logiker zu sein. Leider pflegt schaurigste Kategorienvermanschung hier (und nicht hier nur) verübt zu werden; Politik und Staatsrecht bleiben nicht gegeneinander isoliert. Aber der Staatsrechtler hat, als solcher, sich aller Politik zu enthalten. ("Als solcher" heißt: der Staatsrechtler ist ja noch etwas Andres als Staatsrechtler; so wie der Tischler ja noch etwas Andres als Tischler ist, nämlich beispielsweise Staatsbürger; als Staatsbürger, also jenseits seiner abdifferenzierten Spezialfunktion, hat er natürlich das Recht und, aktivistisch gesehen, sogar die Pflicht zur Politik. Jedoch Tische haben unpolitisch zu sein, staatsrechtliche Betrachtungen auch.) Was hier folgt, ist mithin weder von einer Abneigung gegen Hindenburg, Papen, Schleicher, Hitler, Goering, Brüning, Löbe, Torgler oder sonstige Politiker getragen, noch von einer Zuneigung zu einem von diesen; auch zu den von ihnen repräsentierten Ismen scheiden Affektbeziehungen aus.
Eine einzige Affektbeziehung soll nicht geleugnet werden: die zum Satz vom Widerspruch. Meine Liebe zu ihm ist unsterblich. Die Weimarer Verfassung ...


An drei Beispielen sei gezeigt, wie widerspruchsvoll sie ist.
Erstes Beispiel: die Exekution gegen ein Land. In Artikel 48 werden alle Artikel der Reichsverfassung aufgezählt, die "zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" vom Reichspräsidenten vorübergehend außer Kraft gesetzt werden dürfen. Klar, daß Artikel, die in dieser Aufzählung fehlen, nicht suspendierbar sind. Es fehlt in der Reihe Artikel 5, wonach "die Staatsgewalt" "in Landesangelegenheiten durch die Organe der Länder auf Grund der Landesverfassungen ausgeübt" wird. Dieser Artikel darf also niemals außer Kraft gesetzt werden. Gegen ihn ist indes nicht nur durch die Reichsexekutionen gegen Sachsen-Thüringen 1923 und gegen Preußen 1932 tatsächlich verstoßen worden, sondern jede Reichsexekution verstößt a priori gegen ihn. Wie und auf welche Art eigentlich soll ein Reichspräsident gegen ein Land "mit Hilfe der bewaffneten Macht" "einschreiten" und es zur Erfüllung seiner Pflichten "anhalten", wenn er die verfassungsmäßige Regierung des Landes unangetastet läßt? Aber dieses Einschreiten und Anhalten gestattet ihm die Reichsverfassung, unter bestimmten Voraussetzungen; im selben Artikel 48.
Zweites Beispiel: die Notverordnungen. Der Reichspräsident darf sie erlassen, aber er hat davon "unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben", und sie "sind auf Verlangen des Reichstags außer Kraft zu setzen". (Artikel 48 Absatz 3.) Klar, daß es dem Sinn dieser Bestimmung zuwiderläuft, den Reichstag aufzulösen, bevor er zu der erlassenen Notverordnung Stellung genommen hat; oder nachdem er sie abgelehnt hat; oder ihn (wie Brüning es 1930 tat) zunächst aufzulösen und dann erst die Notverordnung zu erlassen, damit sie zumindest ein Vierteljahr lang gelte und ihre Wirkung tue - jenes Vierteljahr, das zwischen Auflösung des Reichstags und Zusammentritt eines neuen verfassungsgemäß gelegt sein darf. All dies sind zweifellos Manöver, das in Artikel 48 festgesetzte Einrederecht der Volksvertretung gegen reichspräsidentielle Dekrete, wenn nicht zu beseitigen, so doch zu schmälern. Aber bricht eine Regierung, die in dieser Weise verfährt, die Verfassung? In Artikel 25 heißt es: "Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen." Daß er ihn nach Erlaß einer Notverordnung aus Artikel 48 oder vor dem beabsichtigten Erlaß einer solchen Verordnung nicht auflösen dürfe, steht an keiner Stelle des Weimarer Dokuments. Gewisse Reichstagsauflösungen also, die nach Artikel 48, soll dessen Absatz 3 irgend Sinn haben, verfassungswidrig sind, sind nach Artikel 25 verfassungsgemäß.
Hiernach darf der Reichspräsident nicht nur Einen Reichstag, sondern jeden Nachfolger dieses Reichstags unmittelbar nach dem Zusammentritt auflösen; er muß nur jedesmal einen neuen Grund nennen; im übrigen darf das Spiel bis in die Puppen gehn. "Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen, jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß." Man beachte die sprachliche Monstrosität dieser Bestimmung! Zwei logische Schnitzer in einem kurzen Satz! Das Parlament kann nämlich in Wahrheit auch aus ungleichem Anlaß "nur einmal" aufgelöst werden - so wie die Kreatur nur einen Tod sterben und nicht mehrmals an verschiedenen Krankheiten verrecken kann. Die "zweite" Auflösung des Reichstags träfe ja einen andern, den neuen Reichstag. Daß er aber "nur einmal aus dem gleichen Anlaß" aufgelöst werden könne, diese von der Verfassung aufgestellte Behauptung läßt die Einsicht vermissen, daß die Begriffe "einmal" und "gleich" inkompatibel sind. Sie beißen sich. Eines kann einander nicht gleich sein! "Gleich" läßt sich immer bloß von einer Vielheit, mindestens Zweiheit, aussagen. Zweimal, dreimal, xmal aus dem "gleichen" Anlasse - das geht; "einmal": Unsinn. Ein Statut, das statuiert: eine Körperschaft könne "nur einmal aus dem gleichen Anlaß" aufgelöst werden, involviert die Möglichkeit, daß sie auch einmal aus verschiedenem Anlaß aufgelöst werden könne - eine Hypothese, die immerhin gegen den Satz von der Identität verstößt.
Das mag eine zu formalistische Kritik sein. Wesentlich bleibt, daß Artikel 25 dem Reichspräsidenten mitnichten die Anlässe vorschreibt oder auch nur einschränkt, aus denen er auflösen darf. Begründet dermaleinst ein Reichspräsident die Auflösung des Reichstags, die er verordnet, mit dem Unbehagen, das ihm die Nase des Abgeordneten A. einflößt, so wird er gewiß nicht vorbildlich, aber - sofern Artikel 25 dann noch gilt - ebenso gewiß nicht verfassungswidrig handeln.
Er darf die Auflösung also auch mit der Gefahr motivieren, eine seiner Notverordnungen könnte vom Reichstag verworfen werden. Nirgends steht, daß er das nicht darf. Es widerspricht Artikel 48 Absatz 3? wonach der Reichspräsident seine Notverordnungen dem Reichstag unverzüglich zur Entscheidung vorzulegen hat? Ei, freilich widerspricht es Artikel 48 Absatz 3; aber dafür kann doch der Reichspräsident nichts! Dafür kann die Verfassung! Man sollte ihm nicht zummuten, auf Rechte zu verzichten, die sie ihm gibt; und dem Reichstag nicht, zu protestieren, daß ihm Rechte, die sie ihm ebenfalls gibt, mit dem gleichen Akte genommen werden, mit dem der Reichspräsident die ihm zustehenden ausübt.
Das dritte Beispiel: parlamentarisches System und "Präsidialregierung". Zu den Verfassungsartikeln, die unsuspendierbar sind, gehört jener Artikel 54, der feststellt: "Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags." Eine loyale Deutung dieser Bestimmung führt zu der Erkenntnis, daß von Amtsführung eines Reichskanzlers nicht die Rede sein kann ohne zuvor ermitteltes Vertrauen des Reichstags. Darf ein Kabinett amtieren, ehe es ergründet hat, ob es das Vertrauen des Reichstags besitzt? Eine der ersten Autoritäten auf dem Gebiete des Staatsrechts, Professor Gerhard Anschütz, geht sogar so weit, zu behaupten, daß "der Reichspräsident niemand zum Reichskanzler oder Minister ernennen darf", "von dem anzunehmen ist, daß er das Vertrauen des Reichstags nicht besitzt" (‚Die Verfassung des Deutschen Reichs', 11. Auflage, 1929, Seite 276); und der fast ebenso berühmte Professor Friedrich Giese erklärt ähnlich, Reichspräsident und Reichskanzler "dürfen nicht solche Kandidaten auswählen, von denen ihnen bekannt ist oder bei gewissenhafter Prüfung bekannt sein muß, daß sie das Vertrauen des Reichstags nicht besitzen und auch nicht gewinnen werden" (‚Die Verfassung des Deutschen Reiches', 8. Auflage, 1931, Seite 149). So rechtsunwirksam das Mißtrauensvotum vom 12. September sein mochte - es bewies, was bis dahin nur vermutbar gewesen war: daß 7 1/2 Prozent des Reichstags und der Nation hinter dieser Regierung und 91 1/2 Prozent gegen sie stehen (1 Prozent unentscheiden). Da, nach Artikel 54, jede Regierung (nicht zu ihrem Seelenfrieden, sondern zu ihrer Amtsführung) des Vertrauens des Reichstags bedarf und die Regierung Papen es keine Sekunde lang besaß, so spricht vieles für die Vermutung, daß Amtshandlungen seitens dieser Regierung rechtens nicht vorliegen, vielmehr alles, was sie getätigt hat und tätigen wird, die von ihr gegengezeichneten Notverordnungen vorneweg, rechtsunverbindliche Privatbetätigungen waren und sein werden. Jedes ihrer Mitglieder "muß zurücktreten, wenn ihm der Reichstag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht" (Artikel 54) - eine Bestimmung, die selbstverständlich illusorisch wird, wenn die Regierung solchem Beschluß immer wieder durch Auflösung des Reichstags zuvorkommt. Auflösungen dieserart sind also verfassungswidrig? Aber Artikel 25 erlaubt sie doch! Und Artikel 53 konstatiert klar: "Der Reichskanzler und auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden vom Reichspräsidenten ernannt und entlassen." Ist in 54 das parlamentarische, so ist in 53 das reichspräsidentialische Regime verankert. Beide Anker zerren das Staatsschiff nach entgegengesetzten Richtungen; wie einst die Rosse den zu Vierteilenden. Ein Staatslenker, der entgegen dieser Verfassung handelt, handelt zugleich auch immer gemäß ihr.
Ihm Verfassungsbruch vorzuwerfen wäre ungerecht. Von Staatsstreich kann dort nicht die Rede sein, wo das Staatsgrundgesetz ihn rechtfertigt. Ich bekenne als republikanischer Jurist, die Weimarer Verfassung aus den erwähnten und andern Gründen, unbeschadet ihrer guten Absichten, für eines der größten Pfuschwerke der Rechtsgeschichte zu halten. Und ich weiß als Antidemokrat, warum sie das werden mußte.
Aber der letzte Satz ist bereits "Weltanschauung". Ich nehme ihn, um meinen Schwur nicht zu brechen, mit tiefem Bedauern zurück. Und füge hinzu, daß auch Verfassungen, die wenig taugen, befolgt sein wollen - soweit das logisch möglich ist.