Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 20 der Hiller-Gesellschaft

Militante Gruppe stellt Kurt Hiller vor

Ein recht ordentlicher Artikel über Kurt Hiller ist verfasst worden: Kurt Hiller - ein revolutio-närer Pazifist. Die "Zeitung gegen den Krieg" brachte im April diesen Artikel, der die Aktivitä-ten Hillers in verschiedenen pazifistischen Gruppen aufführt. Diese Zeitung war am 29.April Beilage der Zeitung "Junge Welt". Das grundlegende Urteil des Autors kommt in folgendem Zitat zum Ausdruck: "Hillers Sozialismusverständnis fußt demnach nicht auf dem Historischen Materialismus der marxistischen Gesellschaftsanalyse, sondern ist durchzogen von idealisti-schen und teils mystisch anmutenden Ansätzen, die den Kampf gegen den Kapitalismus eher in der Zirkulations- als in der Produktionssphäre verorten." Erstellt wurde die "Zeitung gegen den Krieg, Militarismus, die mg-Verfahren und Repression" vom "Bündnis für die Einstellung der §129(a)-Verfahren über das Verfahren der Bundesanwaltschaft (BAW) gegen sieben linke Aktivisten aus Berlin und den Prozess." Ihnen wird die Mitgliedschaft in der "militanten grup-pe" (mg) vorgeworfen, die als "kriminelle Vereinigung" nach §129 (vorher: §129a) verfolgt wird. Die "militante gruppe" bekennt sich zu Gewalt, z.B. mittels der Zeichnung eines bren-nenden Militärfahrzeugs und der Parole "Kriegsgerät interessiert uns brennend".
Anzumerken ist allerdings, dass Hiller in der 68er-Zeit Brandstiftung als Mittel der Politik ab-lehnte. Der Artikel über Hiller ist nachzulesen auf:
http://einstellung.so36.net/de/prozess/zeitung/artikel/1399
Harald Lützenkirchen

Abendroth - Hiller

Mit dem Politologen Wolfgang Abendroth (1906-1985) hatte Hiller gelegentlichen Briefkon-takt. Im Rahmen der erscheinenden Abendroth-Gesamtausgabe im Offizin-Verlag Hannover zeigt sich, dass Abendroth in seinen politischen Schriften offenbar nur ein einziges Mal Hiller erwähnt.
Für die in Vorbereitung befindlichen Bände 7 und 8 (Briefe) erhielt der Bearbeiter Gregor Kri-tidis die vorhandenen Briefe aus dem Hiller-Nachlass in Kopie. Zusätzlich gibt es ein paar Brie-fe Hillers an Abendroth im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam.
Mitherausgeber der Abendroth-Gesamtausgabe ist Dr. Ulrich Schöler, Leiter der Abteilung Wissenschaft und Außenbeziehungen im Deutschen Bundestag. Er will darüber hinaus einmal ein Buch über den "Bund freier sozialistischer Jugend" schreiben, der zwischen 1925 und 1933 mehrere Jugendgruppen vereinigte. Abendroth war in diesem Bund zeitweilig im Vorstand. Franz Hammer gab die Zeitschrift "Rote Spur", Hellmuth Drechsler Rundbriefe heraus. Mit den letztgenannten Personen hatte Hiller umfangreiche Briefwechsel, die von Ulrich Schöler eingesehen wurden und ausgewertet werden, da sie Reminiszenzen an den damaligen Jugend-bund enthalten. Leider brachten aber Ulrich Schölers Forschungen auch die Erkenntnis, dass die ca. 350 Briefe Hillers an Hellmuth Drechsler in dessen Familie nicht aufbewahrt worden sind.

Über den Brief Gustav Stresemanns an Kurt Hiller vom 25.IV.1926

Im April 2009 ersteigerte die Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin auf einer Auk-tion des Kunst- und Buchauktionshauses Bassenge besagten Brief. Nicht inhaltlich, aber formal ist der Brief von großem Interesse.
Im März 1933 hatte die SS bei einem Einbruch in Hillers Wohnung in Berlin-Friedenau Tau-sende von Briefen mitgehen lassen und wohl vernichtet. Zu diesen entwendeten Briefen gehört dieser Brief Stresemanns.
1969 erfuhr Kurt Hiller davon, dass dieser Brief vom Auktionshaus Stargardt, damals in Mar-burg ansässig, auf einer Auktion angeboten wurde. Hiller wandte sich sogleich an Stargardt und verlangte die Herausgabe dieses Briefes, da er Diebesgut und deshalb nach wie vor Hillers Eigentum sei. Es sei der einzige Brief aus dem Diebstahl von 1933, der jemals wieder aufge-taucht ist.
Im Antwortschreiben lehnte das Haus Stargardt Hillers Anspruch ab und erläuterte, dass ihm der Brief 1962 vom Sohn und Erben eines Basler Großindustriellen zur Versteigerung überge-ben worden sei, und dass der Brief von einem Siemens-Direktor erworben wurde, aus dessen Nachlass der Brief nun wieder angeboten werde.
Nach einem Briefwechsel mit juristischem Gezänk sandte das Haus Stargardt den Stresemann-Brief an Hiller, um Streit in der Öffentlichkeit zu vermeiden. Zum Schluss des Briefwechsels bestätigte Hiller den Empfang des Briefs.
Der Brief hat sich also nach Hillers Tod 1972 in seinem Nachlass befunden, wurde aber offen-bar von seinem ersten Nachlassverwalter Horst H. W. Müller veräußert, um jetzt in der Bass-enge-Auktion aufzutauchen. Damit ist der Brief auch der bislang einzige Beleg für die Briefe, die Horst H. W. Müller zwischen 1972 und 2002 aus Hillers Nachlass veräußert hat.
Harald Lützenkirchen

Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 19 der Hiller-Gesellschaft

Kurt Hiller und der Politische Rat geistiger Arbeiter

Aus Anlaß des 90. Jahrestages der Novemberrevolution in Deutschland fand am 19. September 2008 in der Reihe "Pankower Beiträge" beim Verein "Helle Panke e.V." in Berlin die Tagung "Schriftsteller, Künstler und die Novemberrevolution 1918 in Berlin" statt. Die Vorbereitung der Veranstaltung lag in den Händen von Dr. Wolfgang Beutin, dem Gründungsmitglied unseres Vereins. Er hat ein interessantes Programm zusammengestellt, bei dem erstmalig in diesem Zusammenhang auch Kurt Hiller thematisiert werden konnte. Thomas Höhle referierte über Heinrich Mann und sein Bonapartedrama "Der Weg zur Macht", Dieter Schiller sprach über Alfred Döblins "November 1918", Jost Hermand aus den USA widmete sich dem Brechtschen Theaterstück "Trommeln in der Nacht", Heidi Beutin thematisierte die Schrift "Der Dichter greift in die Politik" von Ludwig Rubiner, Harald Lützenkirchen stellte "Kurt Hiller und den Politischen Rat geistiger Arbeiter in der Revolution" vor, Corinna Luedtke sprach über Erich Mühsam und trug dabei aus ihrem Roman "Die Nächte mit Paul oder Tag ist anderswo" vor, Wolfgang Beutin referierte über den "Nachruf" von Karl Kraus auf die österreichische Monarchie und Gerhard Wagner las über "Gewalt und Gerechtigkeit in den Schriften Walter Benjamins". Wenn bei einer Veranstaltung unter den Vortragenden vier Hiller-Freunde zu finden sind, dann freut sich natürlich der 1. Vorsitzende der Hiller-Gesellschaft. Wichtig für mich war aber, daß nach Jahrzehnten der geistesfernen Novemberveranstaltungen in der DDR nun in Ostberlin auch über Randfiguren wie Kurt Hiller und Ludwig Rubiner gesprochen wurde. Deshalb geht mein Dank insbesondere an Harald Lützenkirchen, der mit seinem sorgfältig ausgearbeiteten Referat überzeugte. Die Veranstaltung war wiederum gut besucht. Die Vorträge wurden in der Reihe "Pankower Vorträge" Heft 125 publiziert.


Till Böttger

Der Briefwechsel Hiller - Ida und Fritz Flato

Das Wissen um den Berliner Rechtsanwalt Dr. Fritz Flato (1895-1949) war bislang äußerst fragmentarisch. 2003 habe ich in meiner Studie über die Geschichte der Lesben und Schwulen im Berliner Bezirk Kreuzberg erstmals die verschiedenen Spuren zusammengetragen, mit Mut zur Lücke, wohl wissend, dass viele Zusammenhänge fehlten.(1) In Simone Ladwig-Winters erster Auflage von "Anwalt ohne Recht" wird kurz auf Flato eingegangen, überwiegend gestützt auf Hillers Quellen, die zweite Auflage konnte immerhin schon ergänzt werden, auch mit einem Foto aus dem Bestand der Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft.(2)
Kurt Hiller und Fritz Flato waren von klein auf gute Freunde, basierend auf einer Freundschaft beider Mütter, Ella Hiller und Ida Flato, wie Hiller in "Logos" berichtete. Die Familie Flato betrieb in der Berliner Kommandantenstraße 63/64 eine Möbelfabrik. Flato stieß Anfang der zwanziger Jahre wohl durch Protektion Hillers zum Wissenschaftlich-humanitären Komitee und gehörte mit Hiller und Richard Linsert Ende der zwanziger Jahre zur inneren Opposition gegen Hirschfeld. Zu ihrer Clique zählten auch Peter Martin Lampel und Peter Liman. Flato war als Anwalt und Notar tätig und vertrat Hiller während dessen Internierung im KZ Oranienburg. Flato war Jude, er konnte als Weltkriegsteilnehmer jedoch noch etwas länger seine Zulassung behalten, bevor sie auch ihm endgültig 1935 aberkannt wurde.
Fritz und Ida Flato flohen 1936 nach New York, wo bereits ein Bruder lebte, der schon in der Kaiserzeit ausgewandert war. Bislang verebbten hier alle Spuren. Lediglich der etwas ungenaue Hinweis von Hiller: "Er endete, etwa ein Jahrzehnt später, zu New York in bitterstem Elend durch Freitod",(3) verwies auf Flatos Tod in den vierziger Jahren.
Im letzten Jahr nahm ein Angehöriger der Familie Flato, der genealogische Forschungen betreibt, mit mir Kontakt auf, was mich bewog noch einmal gründlicher in die Recherchen einzutauchen und die Kurt Hiller Gesellschaft nach einem möglichen Briefwechsel Hiller-Flato anzufragen.
Tatsächlich gibt es zwei Briefe von Fritz Flato und einen dazugehörenden Gegenbrief Hillers. Wesentlich umfangreicher ist jedoch die Korrespondenz Hillers mit Ida Flato, die 1946 aufgenommen wurde, 63 Briefe und Karten umfasst und bis 1954 andauerte. Danach war die Hochbetagte nicht mehr fähig zu schreiben, sie starb ein Dreivierteljahr später im Alter von 93 Jahren.
Die Auswertung dieses Briefwechsels brachte nun erstmals zutage, dass Fritz Flato im Frühjahr 1949 in New York Suizid beging, darüber hinaus wurden viele Namen und Ereignisse benannt, die die Suche nach weiteren konkreten Spuren erleichterten. Hier sind insbesondere die Personen Rolf Jungeblut, Dr. Erwin Weidling und Benjamin Hartwig von Bedeutung, die ebenfalls mit Hiller in Briefkontakt standen und deren Briefe weitere Details zu Flatos Leben, seiner Zeit im Exil und den Verhältnissen der einzelnen Protagonisten untereinander zutage förderten.
Sehr aufschlussreich war zudem die Entdeckung, dass Fritz' Schwester Else Flato den ehemaligen Senatspräsidenten von Berlin Alfred Gerstel geheiratet hatte und ebenfalls ins Exil in die USA gegangen war. Ein Teilnachlass nebst aufgeschriebenen Lebenserinnerungen des Ehepaars Gerstel befindet sich in München im Institut für Zeitgeschichte und ist auch schon gesichtet worden.
Die Fülle dieses neuen Materials nebst den genealogischen Forschungen des Familienmitglieds lassen jetzt eine relativ lückenlose Darstellung der Familiengeschichte, der Zeit im Exil und des Freundeskreises um Flato und Hiller zu. Nach den umfangreichen Recherchen soll dies nun als Nächstes in Angriff genommen werden. Der Kurt Hiller Gesellschaft und Harald Lützenkirchen gilt mein großer Dank für die Bereitstellung der Briefwechsel und der vielen Hinweise.

Dr. Jens Dobler (Magnus-Hirschfeld-Gesellschaft)


(1) Jens Dobler: Von anderen Ufern - Geschichte der Berliner Lesben und Schwulen in Kreuzberg und Friedrichshain, Gmünder Verlag Berlin 2003, S. 101-103.
(2) Simone Ladwig-Winters: Anwalt ohne Recht. Das Schicksal jüdischer Rechtsanwälte in Berlin nach 1933, erste Auflage, Berlin 1998, S. 124; zweite Auflage, be.bra Verlag Berlin 2007, S. 151.
(3) Kurt Hiller: Leben gegen die Zeit (Logos), Rowohlt Reinbek 1969, S. 285.

Arthur Kronfeld in Moskau

Aus Kurt Hillers Autobiographie "Leben gegen die Zeit" wissen wir, daß ihm das Schicksal seines Freundes und Kollegen Arthur Kronfeld in der Moskauer Zeit besonders am Herzen lag. Immer wieder versuchte er, von Deutschen, die das Moskauer Exil überlebt hatten, Informationen zu Kronfeld zu erhalten. Johannes R. Becher hat er sogar mehrfach in Zeitungsartikeln öffentlich dazu aufgefordert, das Geheimnis um das tragische Ende Kronfelds aufzuklären. 2006 ist nun in einem Moskauer Verlag eine zweisprachige Ausgabe von Arbeiten Kronfelds aus den Jahren 1935 bis 1940 erschienen, die auch unter dem Titel "Die Lebens- undSchaffenstragödie Arthur Kronfelds - eines immerwährenden modernen Klassikers" eine aktuelle Würdigung von Leben und Werk Kronfelds (S. 527-544) aus der Feder von Ju. S. Sawenko, dem Präsidenten der unabhängigen psychiatrischen Assoziation Rußlands, enthält. Er bezieht sich dabei auf Gespräche mit dem engsten Freund Kronfelds in Moskau, Prof. Erich Sternberg, dem damaligen Direktor des Instituts für Psychiatrie, Prof. Pawel Poswjanski, und anderen, nicht explizit genannten Zeitzeugen. "Mit dem Beginn des Krieges ist die antifaschistische Haltung Kronfelds wieder gefragt: er tritt mit Reden gegen die Hitlerarmee auf, im Zeitungsverlag ‚Mitarbeiter des Gesundheitswesens' erscheint in großer Auflage seine Broschüre ‚Degeneraten an der Macht' über die Führer des Dritten Reiches (1941). Doch die Situation verschlimmert sich überall rasend schnell. Im September fand die Deportation von Deutschen aus Moskau und dem umgebenden Verwaltungsbezirk statt. Am 12. Oktober nimmt Kronfeld an einem antifaschistischen Massenmeeting von Wissenschaftlern teil, am 14. Oktober rücken deutsche Einheiten, die die Abwehr durchbrochen hatten, unmittelbar auf Moskau vor. Am 15. Oktober fällt die Entscheidung zur Evakuierung. Die Gerüchte darüber lösen Panik aus. Am 16. Oktober bereiten sich die Institutsmitarbeiter fieberhaft auf die Abreise vor, doch Kronfeld findet in den Evakuierungslisten entweder seinen Namen oder den Namen seiner Frau nicht. Weder in seinem Institut, noch im Gannuschkin-Institut, nicht im Moskauer Institut für Psychiatrie und auch nicht im Ersten Moskauer Medizinischen Institut in der Pirogow-Straße, am anderen Ende der Stadt. Dorthin mußte er sich an einem kalten, windigen Tag zu Fuß auf den Weg machen, von der Preobrazhenka-Straße, wo er auf dem Institutsgelände wohnte, und wo jetzt Spezialeinheiten die Institutsarchive verbrannten, einschließlich der Krankenblätter und Krankheitsgeschichten - die Früchte jahrzehntelanger aufopferungsvoller Arbeit der Schule Rosensteins, die ihre Katamnese nicht mehr erleben sollten, die so viele Kardinalsfragen hätte beantworten können. All das wurde durch das eindimensionale Denken des NKWD vor seinen Augen wertlos. Von allen vergessen, von niemandem gebraucht, faktisch ohne Mittel zum Lebensunterhalt, mit deutschem Akzent, unter den Bedingungen eines völlig aus den Fugen geratenen Alltagslebens, angesichts des organisierten Chaos' und der Dreistigkeit eines Zivillebens unter militärischen Bedingungen, fühlte er sich in diesem Krisenmoment akut als nicht dazugehöriger Fremder selbst in der Umgebung, die sonst nichts anderes vermochte, als den hohen Professionalismus zu verstehen und zu schätzen. Einige Professorenfamilien, die im selben Haus wie Kronfeld lebten, luden ihr Hab und Gut auf ein paar Lastwagen. Für Kronfeld fand sich dort kein Platz. Alle Versuche und alle Perspektiven, seiner Lage zu entkommen, waren aussichtslos, bis auf eine - den Nazis in die Hände zu fallen. Doch es war nicht die Angst, die Angst war überall; alles, wofür er gelebt hatte, hatte seinen Wert verloren. Am Morgen des 17. Oktober nahmen er und seine Frau eine hohe Dosis Veronal. In diesem verhängnisvollen Moment war niemand in seiner Nähe, der ihm hätte beistehen oder ihm die nötige Unterstützung zukommen lassen können - der größte Teil der Mitarbeiter war zur Armee einberufen. Der stellvertretende Direktor des Gannuschkin-Instituts A.Sneznewski, der sich für kurze Zeit nach Moskau frei machen konnte und der in der Nachbarschaft wohnte, kam buchstäblich einige Stunden zu spät... So schied einer der talentiertesten Psychiater des Jahrhunderts aus dem Leben. Mit ihm endete die kaum begonnene Renaissance der russischen Psychiatrie, eine Renaissance unter den Bedingungen des Terrors.
Der Direktor des Moskauer Instituts für Psychiatrie des Gesundheitswesens der Russischen Sozialistischen Sowjetrepublik dieser Jahre, Prof. P.B. Poswjanski, litt sein ganzes späteres Leben an dem Vorgefallenen und gab sich die Schuld daran. Doch wie gewöhnlich in diesen Fällen, die Schuld liegt in Wahrheit bei allen. Doch nicht im Sinne einer Befreiung von der persönlichen Verantwortung, sondern - umgekehrt - im Sinne der persönlichen Verantwortung eines jeden, auch eines jungen Psychiaters.
Gleichberechtigt neben dem Schicksal Arthur Kronfelds steht das Schicksal seiner großartigen Fachbibliothek, die es ihm gelang - dank der Abstammung seiner Frau aus der deutschen Aristokratie - aus Deutschland auszuführen. Lange Zeit nahm sie die Hälfte der Räumlichkeiten der Institutsbibliothek ein und war doch fast nicht gefragt. Jahrelang tropfte das Wasser durch eine löchrige Decke in aufgestellte Eimer und Schüsseln, bis sie in der Mitte der 1990er Jahre bei einem Umzug in ein anderes Gebäude fast zur Hälfte verloren gegangen ist. Verloren sind auch viele Bücher Kronfelds selbst - von ihm geschriebene oder mit seinen Bemerkungenversehene.
Doch das Schicksal des wissenschaftlichen Erbes Kronfelds in Rußland steht dazu im Kontrast. Die Arbeiten Kronfelds gehörten und gehören für Fachleute immer zu den wertvollsten und aufschlußreichsten. Die vorliegende Arbeit erlaubt es einer neuen Generation von Psychiatern, sich die schwer zugänglich gewordenen Schriften Kronfelds zu erschließen. Mehr noch, mit der Übersetzung der wichtigsten Arbeit der russischen Schaffensperiode ins Deutsche, festigt diese Ausgabe das gegenseitige Verständnis zwischen deutschen und russischen Psychiatern, aber auch das Verständnis von Grundfragen der Psychiatrie selbst."
Das Buch enthält folgende Originalarbeiten Kronfelds:
"Probleme der Syndromologie und Nosologie in der gegenwärtigen Psychiatrie" (Erstver-öffentlichung 1940, S. 550-693),
"Ueber physiognomische Aehnlichkeiten" (1935, S. 694-700).

Arthur Kronfeld, Entstehung der Syndromologie und Konzeption der Schizophrenie, Werke 1935-1940, Moskau: Unabhängige Firma "Klass", 2006. ISBN 5-86375-140-1, 768 Seiten.

Till Böttger

Hiller über Kerr 1917

Der ehemalige Lehrer und jetzige Literaturwissenschaftler Guido Kohlbecher aus dem Raum Koblenz, dessen Spezialgebiet "Literarische Umfragen" sind, entdeckte eine interessante Umfrage zu Alfred Kerr. Sie erschien zum 50. Geburtstag Kerrs in der 1.Beilage des Berliner Börsen-Couriers vom 25.Dezember 1917, S. 5 und 6. Bekannte Schriftsteller wie Peter Altenberg, Ernst Blaß, Max Brod, Richard Dehmel, Salomo Friedlaender, Walter Hasenclever, Oskar Loerke, Carl Sternheim und Frank Wedekind drücken auf unterschiedliche Art ihre Verehrung für Kerr aus, auf formalem Gebiet dessen Sprache lobend, auf inhaltlichem Gebiet dessen Kritiken preisend, wobei die Kriegslyrik Kerrs nicht zur Sprache kommt.
Kurt Hiller darf in der Schar der Kerr-Huldiger nicht fehlen. In seiner Stellungnahme heißt es u.a.: "Sein Geheimnis: das Gedachte in keinen feierlichen Erörterjargon umzusetzen, vielmehr so zu schreiben, wie gedacht wird. [...] In Kerr gewann, zum erstenmal seit Nietzsche, deutsche Prosa wieder ein Gesicht. [...] Kerr, Abgott unsrer Sturmjahre, wir werden dir, komme was wolle, die Treue halten; aber werde auch du allmählich uns treu!"
Das Phänomen Kerr und gerade auch seine Wirkung auf Kurt Hiller verdient noch eine eingehende Untersuchung.

Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 18 der Hiller-Gesellschaft

Jüngers Jauche

Ernst Jünger war Nationalist, ohne zu wissen, was Nationalismus ist. Dies - und seine geschickte Art, Aufsehen zu erregen - machten ihn für Kurt Hiller zu einer gefährlichen Sorte von Förderer und Mitläufer des Nationalsozialismus.
Unser Mitglied Klaus Täubert machte als erster auf eine barbarische Äußerung Jüngers über Kurt Hiller aufmerksam, die vor kurzem in der "Welt" zu lesen war. Ein geistiges Armutszeugnis in Sachen politischer Bildung stellte Jünger sich 1949 aus, als er äußerte:
"Ich halte Hiller für einen der Hauptschuldigen an den Judenpogromen, er war es, der durch jahrzehntelange Beschmutzung alles Deutschen dem Stürmer das Material lieferte. Hiller und Streicher, das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille."
Die Unsinnigkeit dieser Einschätzung liegt auf der Hand: Hiller hat seine Heimat Deutschland sehr geliebt und hat gerade zum Wohl des Landes vor fatalen Entwicklungen gewarnt. Mit Gefühl für Differenzierung hat er niemals eine "Beschmutzung alles Deutschen" hingenommen oder gar gefördert. Hillers subtile und faire Auseinandersetzung mit Nationalisten wie Otto Strasser, Karl Otto Paetel und Franz Schauwecker - Jünger wußte davon und leugnet es hier auf hundsgemeine Art.
Schon 1927 hatte Jünger zur Kenntnis genommen, daß Hiller kein Sozialist und Demokrat herkömmlichen Zuschnitts war. Auf Hillers Artikel "Das Ziel entscheidet" (Weltbühne vom 12.Juli 1927) antwortete Jünger unter dem gleichen Titel in der Zeitschrift "Arminius" (7.August 1927). Er fand moderate Worte über Hillers Anschauungen und stimmte sogar dessen Republikanismus-Kritik zu. Im Grunde war Hiller ihm lediglich nicht nationalbarbarisch genug, was in folgenden Formulierungen Jüngers zum Ausdruck kommt:
"Es sind die Nachwehen einer Totgeburt, der ersten deutschen Republik, der die Legionen und die Liktoren fehlen, und die Diktatoren, die der nationale Wille vom Griffholz des Pfluges an die Spitze des Staates holt."
"Vollständig irrig [...] ist der Satz Hillers: ‚Humanität ist der einzige Sinn der Politik.' Der Sinn der Politik ist allein das Schicksal der Völker, das um seinen machtvollen Ausdruck ringt."
"Wer den Nationalismus bejaht, darf vor seiner logischen Konsequenz, dem Imperialismus, nicht Halt machen. Da es nur einen Imperialismus geben kann, so kann über kurz oder lang auch nur eine Nation zur Leitung der großen Geschicke berufen sein. Schon werden allem Geschwätz zum Trotz die neuen Schiffe und die neuen, schrecklicheren Maschinen gebaut. Das Wachstum des Weltverkehrs ebnet die Grenzen nicht ein, wie die Pazifisten in höchst oberflächlicher Weise schließen, sondern es erweitert zugleich die Sphären der Macht und den kriegerischen Aktionsradius."
"Heute ist Rüstung der Ausdruck des Wunsches, die eigene Nation als Subjekt und nicht als Objekt eines Schicksals zu sehen, das sich unaufhaltsam vollendet. Es gibt keinen Wunsch, der tiefer, verantwortungsfreudiger und uneigennütziger wäre. Wir hoffen, daß eine neue Jugend den harten Weg der großen Verantwortung wählt."
(Die 4 Zitate nach: Ernst Jünger: Politische Publizistik 1919 bis 1933. Hrsg. v. Sven Olaf Berggötz, Stuttgart 2001, S. 350, 351, 352, 353)
Die Apologeten Jüngers können angesichts solcher "Anschauungen" nur darauf verweisen, daß Jünger sich später gewandelt habe. Der Ruf nach Diktatoren von der Scholle, die Rechtfertigung eines Imperialismus des stärksten Staates, die Faselei von Schicksal, dunkle Appelle an die Jugend, den harten Weg zu gehen: dies alles ist einfach nur barbarisch. Jünger erhielt 1959 das Grosse Bundesverdienstkreuz, 1980 die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg, 1982 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt am Main, 1985 das Grosse Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband; ich kann leider nicht zuordnen, für welches der vier Zitate oben er welche Auszeichnung erhielt.
Als Hiller 1932 wieder etwas über Jünger schrieb, in seinem Artikel "Linke Leute von rechts" (Weltbühne vom 2.August 1932), tat er bereits so, als sei Jünger nicht ernst zu nehmen; nur der Umgang Anderer mit Äußerungen Jüngers sei noch der Diskussion würdig. Zu einigen Schriften Karl Otto Paetels äußert Hiller: "Schaurige Expektorationen des grotesk überschätzten Herrn Ernst Jünger werden zitiert, aber nicht abgelehnt. Etwa: ‚Der Krieg ist ein Erlebnis des Blutes'. ‚Was unsere Literaten und Intellektuellen darüber zu sagen haben, ist für uns ohne Belang.' ‚Er mag die Hölle gewesen sein - nun gut, es liegt im Wesen des faustischen Menschen, auch aus der Hölle nicht mit leeren Händen wiederzukehren.' Ich werfe Paeteln vor, der schändlichen Frivolität, die hier feixt, nicht Einhalt geboten zu haben. Es mußte, wenn man so dreiste und seichte Sätze überhaupt abdruckt, unbedingt gesagt werden: erstens, daß den Krieg der Umstand nicht rechtfertigt, daß er ‚erlebt' werden kann, sintemalen auch Feuersbrunst, Lustmord und Raubmord erlebbar sind; zweitens, daß Herr Jünger ja selber Literat ist und selber Intellektueller, wenngleich kein sonderlich intelligenter; so daß seine These ihn selber ohrfeigt; drittens, daß es keineswegs im Wesen des faustischen Menschen liegt, aus der Hölle des Krieges überhaupt wiederzukehren. Wiederkehr ist ein Glücksfall und beweist weder Heroen- noch Fausttum. Gewiß verdient Herrn Jüngers Bekenntnis Beachtung: ‚Wir Nationalisten wünschen nicht zum zweiten Male mit dem Kapital in einer Front zu stehen'; aber wenn er fortfährt: sein Kreis stünde ‚auf der Seite des widerstandswilligen Proletariats', ‚um der Nation, nicht um irgendwelcher humanitärer Beglückungsideen willen', so muß dieser Antibeglücker, dieser ausgesprochene Unmensch gefragt werden, ob denn zu seinem Ideal von Nation gehört, daß ihre Mitglieder glücklos sind. Ich plädiere dafür, daß allgemein aufgehört werde,sadomasochistische Sublimationen als Politik hinzunehmen."
Die bereits angedeutete "Wandlung" Jüngers nach dem Krieg (in seiner Schrift "Frieden") war für Hiller ein Schritt vom Regen in die Traufe. In einem Artikel "Londoner Brief" (erschienen 1946 in den Zeitschriften "Ulenspiegel" und "Der Aufbau", Berlin, gab Hiller seiner Sicht wie folgt Ausdruck: "Der unverschämte Schwindel, der seit der sogenannten Bekehrung dieses Lumpen auch gerade in der Emigration von gewisser Seite mit ihm getrieben wird, mit ihm, der als einer der widerwärtigsten Kriegsverbrecher vor dem Nürnberger Tribunal stehen sollte, empört mich seit Jahren. [...] Findet sich in dem ekelerregenden Schmarren ‚Frieden' auch nur der Schatten der Spur einer Andeutung von Reue, von dem Bedürfnis, die Liebknechtdeutschen, die Quiddedeutschen oder uns revolutionäre Pazifisten (die Alfons Goldschmidt, Ernst Toller, Kurt Tucholsky, mich), die er ständig beschimpft hatte, um Verzeihung zu bitten? Keß und kiebig enttaucht er unsern Mus-Töpfen, als hätte er dort immer gewohnt. Und in wie schlechter Haltung enttaucht er! Wie schief und krumm und plattfüßig sind seine Argumente, wie pfäffisch attackiert er wieder mal die Vernunft. Wie stinkt das alles nach Opportunisterei und Unechtheit. [...] Dieser Verherrlicher des Massenmords l'art pour l'art ist der unvornehmste Schreiber, der je drucken ließ. [...] Unter allen Deutschen von Talent ist Herr Ernst Jünger der verächtlichste. Man müßte das nicht aussprechen, wenn er nicht dieser geschickte Aufsehenerreger wäre und nicht allerhand romantische Jugend (und Senilität!) auf ihn hereinfiele".
(Zit. nach: Ernst Jünger - Gerhard Nebel. Briefe 1938-1974. Hrsg. v. Ulrich Fröschle und Michael Neumann. Stuttgart 2003, S. 678f.)
In seiner Rede "Geistige Grundlagen eines schöpferischen Deutschlands der Zukunft" warnte Hiller 1947 vor den neuen Dogmen Jüngers: "Wenn die feineren Nationalisten bei der Heraufbeschwörung des Krieges vorsichtig und ‚metaphysisch' verfuhren, zum Beispiel, indem sie erklärten, er sei nicht ihr Ziel, sondern ‚Schicksal', so war dies kein ihr mörderisches Verbrechen mildernder Umstand. Ging ihr Haupthahn, Herr Ernst Jünger, neuerdings dazu über (neuerdings: das heißt von dem Moment an, wo er Hitlers Krieg als verloren erkannte), den nationalen Totalitarismus durch einen klerikalen zu ersetzen, so können wir Diener des freienGeistes und Liebhaber der geistigen Freiheit solchem Intoleranz-Edikt unmöglich mit Toleranz begegnen. Er ist nicht der einzige, der fortan die biblischen Dogmen verabsolutieren und das freie kritische Denken in Deutschland inquisitorisch niederhalten möchte. [...] Die Menschen müßten ‚sich metaphysisch stärken' - ‚metaphysisch', das heißt theologisch; in diesem Sinne müsse ‚die Toleranz ihre Grenzen haben'; ‚wer nur auf Menschen und Menschenweisheit schwört, kann nicht als Richter sprechen, wie er als Lehrer nicht weisen kann, als Arzt nicht heilen und als Beamter dem Staat nicht dienen kann'. So fordert er konsequent, daß ‚der Staat vor allen Forschungen und Studien dem theologischen als der Ermittlung der höchsten Gültigkeit Vorrang gewähren muß'. Die weltliche Philosophie präsentiere nur ‚ausgeklügelte Systeme'; ‚sie führten alle auf Tötung zu und auf die Verehrung der Gewalt'. Alle. Diese Unverschämtheit wagt sich ein Bursche zu leisten, der die Luft der ersten Republik mit seiner Lobpreisung des Krieges um seiner selbst willen durchstank; der den Pazifismus verhöhnte; der Sätze schrieb wie den: ‚Die Zahl der Leidenden ist bedeutungslos' oder: die Kräfte, die sich dem offiziellen Patriotismus, gar dem Nationalismus, wie er ihn predigte, entgegenstellen, ‚müssen von einem dämonisch aus allen Schichten auflodernden Glauben an Volk und Vaterland verschlungen, jeder anders Fühlende muß mit dem Brandmal des Ketzers behaftet und ausgerottet werden.' Ohne Verketzerung, Brandmal und Ausrottung kommt Herr Jünger offenbar auch in seiner ‚theologischen' Entwicklungsphase nicht aus. Die freche Intoleranz, die er damals gegen die Freunde des Friedens, heute gegen die Freunde der Freiheit - der Geistesfreiheit - verübt, kann nicht Objekt unsrer eignen Toleranz werden." (Hiller: Geistige Grundlagen..., Hamburg, Stuttgart 1947, S. 28-30)
Jüngers hirnverbrannte Äußerung über Hiller hatte dann noch folgende Vorgeschichte: der mit Hiller bekannte Nationalbolschewist Karl Otto Paetel hatte in ein Buch über Ernst Jünger im Klett-Verlag einige Angriffe Hillers auf Jünger aufgenommen. In einem Brief vom 15.5.1949 (Durchschlag im Hiller-Nachlaß) erläuterte Hiller dem Verleger Ernst Klett, wieso er zu einer verächtlichen Haltung gegenüber Jünger gekommen war. "Philosophische und politische Gegnerschaft ist für mich noch nie ein Grund zur Verachtung gewesen. Wenn aber ein Schriftsteller, der in so außergewöhnlich hohem Maße zu jenem ‚Nihilismus' beigetragen hat, der zur Inthronisierung Hitler's, zu den durch die deutsche Regierung verübten innernationalen und internationalen Verbrechen und dadurch zur Demütigung und zum Elend unsrer Nation führte, am Schlusse des Krieges erklärt: ‚Ein jeder war mitschuldig, und es gibt keinen, der nicht der Heilung bedürfte', so erzeugt diese Niedrigkeit in mir eben den Ekel, dem ich Ausdruck gab. Der Satz ist nicht einfach nur falsch; er ist gelogen! Denn als Herr Jünger ihn niederschrieb, war ihm nur zu gut bekannt, daß eine Minderheit in Deutschland der Gewaltauffassung, dem Nationalismus, dem Kriege, der nicht-ethisch fundierten Politik, dem ‚Nihilismus' klar und leidenschaftlich entgegengewirkt hat, von 1918 an und teilweise schon viel früher. Herr Jünger weiß und wußte, daß diese Minderheit gearbeitet und gelitten hat, einige Persönlichkeiten darunter für ihre Überzeugung sogar den Tod erlitten haben, teils nach langen Martern teils durch Meuchelmord. Wer, in Kenntnis dieser Dinge, als ein seinerseits ganz besonders Schuldiger äußert: ‚Ein jeder war mitschuldig', der stinkt und ist einer seinen sogenannten Gedankengängen in die Einzelheiten folgenden Widerlegung nicht würdig. [...] Der erwähnte Satz macht mir eine Haltung unmöglich, die mit Achtung verbunden ist."
In seinem Antwortbrief vom 30.5.1949 betont Ernst Klett die aus seiner Sicht geläuterte Haltung Jüngers und empfindet es als schmerzlich, "dass ein Mann, dem ich unendlich viel verdanke, und der meiner Überzeugung nach zu den wenigen gehört, die heute in Deutschland Echtes zu sagen haben, niederer Gesinnungen verdächtigt wird."
In seiner Replik vom 3.6.1949 bemängelt Hiller, daß Jünger zu seinen Vorwürfen in der Rede "Geistige Grundlagen eines schöpferischen Deutschlands der Zukunft" von 1947 schweige. "Herr Jünger [...], in seiner Glorie, ist natürlich viel zu vornehm, christlich und metaphysisch, um sich gegen meine Anklage [...] zu verteidigen. Er tut, als hielte er Schweigen für tiefer. Meine Freunde und ich, wir verwechseln aber dialektische Ohnmacht eines Ertappten nicht mit metaphysischer Tiefe eines Frommen. Wir meinen vielmehr, daß ein Simili mit sämtlichen Façetten schwindelt, er sei ein Diamant."
Ernst Klett muß dann Ernst Jünger von seinem Briefwechsel mit Hiller unterrichtet haben, was am 11.6.1949 zur barbarischen Äußerung Jüngers über Hiller in einem Brief an Klett geführt hat. Eine Kopie dieses Briefes fügte Jünger einem Brief an Martin Heidegger bei, und im Rahmen einer Briefedition Jünger - Heidegger erschien nun der Brief Jüngers an Klett im Druck und wurde in der "Welt" rezensiert. (Die literarische Welt, 19. April 2008, S.5)
Herausgeber der Briefedition ist Prof. Günter Figal (Freiburg), und er muß sich den Vorwurf gefallen lassen, diese absurde Äußerung Jüngers unkommentiert abgedruckt zu haben. Der Rezensent der "Welt", Dr. Gunther Nickel, früher in der Handschriftenabteilung Marbach tätig, nennt Jüngers Äußerung "geschmacklos" und bemerkt zur editorischen Arbeit Prof. Figals: "Nachwort und Kommentar zur Korrespondenz zwischen Jünger und Heidegger [lassen] leider einiges zu wünschen übrig. [...] Der Kommentar vermerkt neben Lebensdaten lediglich, Hiller sei ‚Jurist, Schriftsteller und Publizist' gewesen, was die Aversion Jüngers nicht im Geringsten zu erklären vermag. Ein Hinweis auf Hillers sachkundige Artikel über die ‚Linken Leute von rechts' in der radikaldemokratischen Wochenzeitschrift ‚Die Weltbühne' hätte hier sowenig fehlen dürfen wie eine Charakterisierung der Kritik, die Hiller im Exil an Jünger übte." Dieser Kritik kann man sich nur anschließen. Ein Erklärungsmoment ist vielleicht, daß Prof. Figal Vorsitzender der Heidegger-Gesellschaft ist ....... Müssen denn die Jüngeraner böse auf Hiller sein, weil dieser einige durchaus boshafte Worte über Heidegger gesprochen hat, und müssen die Heideggeraner böse auf Hiller sein, weil er einige vernichtende Worte über Jünger sagte?
Dr. Gunther Nickel geht in seiner Rezension noch auf eine Briefedition Alfred Baeumler - Ernst Jünger ein, erschienen im w.e.b. Universitätsverlag Dresden, worin Hiller aber nur in einer Fußnote, als Literaturnotiz, erwähnt wird.
Jüngers Jauche besteht aus seinem barbarischen Satz über eine Mitschuld Hillers an den Judenpogromen und aus dem Satz zur Schuldfrage: "Ein jeder war mitschuldig und es gibt keinen, der nicht der Heilung bedürfte." Hierzu merkt Hiller nämlich in einem Brief am 26.7.1946 an Wolfgang Weyrauch vom "Ulenspiegel" an: "Sich selbst bietet er als Heilgehilfen an. Das mag hingehn. Aber die Dreistigkeit, in die Jauche der eignen Lues Die zu reißen, die sauber blieben, ist unvergleichlich. Nimmt ein Messias die Schuld der Schuldigen auf sich, so hat das Größe. Erklärt aber eine Hure, außer den hundert Männern, die sie angesteckt hat, seien an dem Er-gebnis auch die treuesten Ehegattinnen und keuschsten Jungfrauen ihrer Stadt mitschuldig, dann ... ja, dann höre ich auf, ein Gegner der Prügelstrafe zu sein."

Harald Lützenkirchen

Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 17 der Hiller-Gesellschaft

Fund in einer Jugendkiste

Im Frühjahr 2007 fand ich in einer Jugendkiste in einem Packen ungeordneter Briefumschläge und Postkarten einige "Ganzsachen", die mir Kurt Hiller 1958 als damals 16jährigem Briefmarkensammler geschenkt hatte. Seitdem die Kurt Hiller Gesellschaft den Hiller-Nachlaß verwaltet, habe ich die Bedeutung dieser Geschenke erst richtig erkannt. Ich gebe zu, daß mich "Ganzsachen" damals nicht besonders interessierten. An den auf Briefseiten an meinen Vater aufgeklebten bzw. in Falttaschen mitgeschickten, meistens sehr alten Marken fand ich mehr Freude. Mein Vater hat sich damals die Postkarten genauer angesehen und schrieb damals an Kurt Hiller: "Ich habe dem Geschenk an Till entnommen, daß Sie damals in der Tschechoslowakei auch Vorträge gehalten haben." In Absprache mit Harald Lützenkirchen, unserem Archivar, habe ich bei unserem Treffen in Braunschweig diesen Fund von 14 Stücken vorgestellt und zur Einordnung in die entsprechenden Konvolute übergeben. Für die Hiller-Freunde sind bestimmt folgende Informationen interessant:
Auf einer Postkarte schreibt Kurt Hiller am 2.9.35 aus Prag an Imrich Matyáš, Bratislava: "Lieber Freund IM! Soeben erhalte ich von Brno Einladung zu einer Vorlesung an der dortigen Masaryk-Volkshochschule; zwischen 1. und 16. Oktober voraussichtlich. Ich werde aus meinen Schriften eine Art Potpourri lesen. Titel entweder >Ein Vierteljahrhundert Geisteskampf< oder >Kultur und Politik<. Untertitel: >Vorlesung aus eigenen Schriften<. Sollte auch für Bratislava eine Vorlesung in Betracht kommen, so würde ich natürlich sehr gern beides verbinden; es wäre, wie ohne weiteres ersichtlich, für alle Beteiligten finanziell vorteilhafter. Herzliche Grüsse Ihnen und den gemeinsamen Bekannten: Ihr KH"
Ein bisher nicht identifizierter "G." schreibt auf einer Postkarte aus Wien am 1.4.35 an Kurt Hiller in Prag: "Mein lieber Kurt, Dank für Karte [...] Man sagt mir eben, Wohnen in Prag sei teuer ... also wird doch wohl nichts unter 7 Sch. gehen. Hier bekommt man für 6 1/2 Sch. volle Pension. [...]"
Dr. Helmut Bittner schreibt auf einer Postkarte aus Prag am 27.9.36 an Kurt Hiller in Prag: "Sehr geehrter und lieber Herr Doktor! Von 7h-8h abend warte ich auf Ihr Kommen im ‚Conti'. Jede Disposition Ihrerseits ist mir recht: ich warte gerne länger, lassen Sie mich durch Anruf [...] Ihren Wunsch wissen." Im Hiller-Nachlaß befinden sich 184 Briefe und Postkarten von Bittner an Hiller aus dem Zeitraum 1937 bis 1971. Zugleich gibt es 13 Lesedurchschriften von Briefen Hillers an Bittner. Bittner war nach der Flucht aus Prag in New York als Chiropraktiker tätig. Er gehört zu den Dedikationären in den "Hirn- und Haßgedichten" von 1957. Die Postkarte belegt, daß H. Bittner bereits 1936 mit K. Hiller bekannt war. Auf der Frankfurter Antiquariatsmesse 2007 wurden von einem Wiener Antiquariat 28 Briefe von KH an Bittner aus dem Zeitraum 1946-1954 für 6.500 Euro angeboten. Leider haben wir bisher keinerlei Angaben zu einem möglichen Bittner-Nachlaß in New York gefunden. Wer kann uns helfen, Informationen über Dr. Helmut Bittner ausfindig zu machen?
Familie Klein aus der Hotel-Pension "Astoria" in Lubochna (Slowakei) schreibt auf einer Postkarte am 29.11.37 an Kurt Hiller in Prag: "Hochverehrter Herr Hiller! [...] Wir würden es für eine grosse Ehre halten, wenn Sie uns mit einem Ihrer Bücher beehren würden. Mit einer Empfehlung würden wir es für einen grossen Schatz ehren."
Der Journalist Alfred Falk schickt am 10.6.50 aus Nizza eine Postkarte in französischer Sprache an Kurt Hiller in London. Im Hiller-Nachlaß gibt es 201 Briefe und Postkarten Falks an Kurt Hiller. Zugleich existieren 12 Lesedurchschriften von Briefen Hillers an Falk. Wir suchen Personen, die uns über Alfred Falk und seinen Nachlaß informieren können. Wer kann uns helfen?
Dazu gehören weiter eine Postkarte an Ella Hiller in Berlin, eine Postkarte an Prof. Litten in Königsberg und eine Postkarte an Frau Dr. Fabian in Prag von uns bisher unbekannten Personen. Dazu kommen noch einige Briefumschläge, u.a. einer aus Neuseeland.
Hiermit ergeht ein Aufruf an alle Hiller-Freunde! Gibt es evtl. auch bei Ihnen Jugendkisten bzw. Sammlungen, in denen sich Ganzsachen aus dem vormaligen Besitz Kurt Hillers befinden? Wir würden Sie gerne auswerten und in den Hiller-Nachlaß einordnen, vielleicht auch nur als Kopie.
Till Böttger

180 Hiller-Autographen an Hermann Bortfeldt im Archiv unserer Gesellschaft

Hermann Bortfeldt, Journalist, aktives SPD-Mitglied, war von 1950 bis zu Hillers Tod 1972 mit ihm befreundet gewesen, ohne daß es je zu einem Krach gekommen wäre. Journalistisch war Bortfeldt vor allem für den "Vorwärts" und die "Deutsche Welle" tätig, wobei er mehrere Buchrezensionen und Geburtstagswürdigungen über Hiller schrieb.
Seine Gattin Barbara, ebenfalls Journalistin, übergab nun unserer Gesellschaft die erhalten gebliebenen Autographen Hillers: 70 Briefe und 110 Postkarten; zusätzlich 3 Mappen mit Zeitungsausschnitten von oder über Hiller und einige Broschüren. In Verbindung mit den im Hiller-Nachlaß befindlichen Gegenbriefen läßt sich nun erforschen, welche Themen zwischen einem SPD-Journalisten und Hiller zur Sprache kamen. Die Sozialdemokratie und die damalige Presselandschaft gehören auf alle Fälle zu den wesentlichen Dialogpunkten in den Briefen.
Wir bedanken uns sehr herzlich bei Barbara Bortfeldt für diese wertvolle Bereicherung unseres Archivs!

Hamburger Homosexuellen-Ausstellung unter Einbeziehung Hillers

Die Initiative "Gemeinsam gegen das Vergessen - Stolpersteine für homosexuelle NS-Opfer" veranstaltete in diesem Jahr die Ausstellung "Homosexuellen-Verfolgung in Hamburg" in der Staats- und Universitätsbibliothek Carl von Ossietzky. Der Organisator Bernhard Rosenkranz schreibt dazu: "Wie uns Vertreter aller politischen Parteien und die Hamburger Tagespresse bestätigt haben, ist es uns damit gelungen, einen wichtigen Beitrag im Bereich Erinnerungskultur zu leisten und eine Lücke in der Geschichtsschreibung der Hansestadt zu schließen". Die Ausstellung wird in den kommenden Jahren in erweiterter Form an anderen Orten gezeigt werden, so vom 24.4. bis 16.7.2008 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Dann wird es auch eine Schautafel über emigrierte Homosexuelle mit Einbeziehung Kurt Hillers geben.
Im Hinblick auf Würdigungen Hillers zum 125. Geburtstag im Jahr 2010 werden wir das Projekt Stolpersteine (10 x 10 cm große Betonsteine mit Messingplatte, die im Bürgersteig vor dem Wohnhaus des zu Ehrenden angebracht werden) in Erwägung ziehen.
Weitere Informationen auf:
www.hamburg-auf-anderen-wegen.de/stolpersteine

"Gegen Lyrik" auf weiterer Internet-Seite

Wie im letzten NB berichtet, wird dieser Hiller-Artikel auf einer Lyrik-Internet-Seite publiziert. Seit ein paar Monaten gibt es eine Schweizer Kultur-Homepage, die ihren Namen vom Schweizer Humanisten und Universalgelehrten Glarean ableitet. Der Betreiber der Homepage, Walter Eigenmann, fügt jeden Tag literarische, musikalische und Schach-Kabinettstückchen hinzu. Unter der Adresse: www.glareanverlag.wordpress.com findet man unter October 19th den Artikel "Gegen Lyrik" sowie ein Foto Hillers. Will man direkt zum Hiller-Artikel kommen, muß die angegebene Internetadresse um /category/kurt-hiller ergänzt werden.

Hillers Vorschlag für die Deutsche Nationalflagge: Einfarbig Blau

Im Nachlaß findet sich ein Manuskript "Die deutschen Farben", welches Hiller Zeitungen anbot, aber vermutlich unveröffentlicht geblieben ist. In diesem Essay (4 getippte Seiten) befaßt er sich mit der Frage einer geeigneten Deutschen Nationalflagge. Damals liefen noch die Verhandlungen zu einem deutschen Grundgesetz, und insofern hätte Hillers Vorschlag noch berücksichtigt werden können. Letztendlich lautet § 22 des Grundgesetzes: "Die Bundesflagge ist schwarz-rot-gold."
Hiller sah diese von der Weimarer Republik benutzte Farbenkombination als diskreditiert an, bedingt durch das vielfältige Versagen dieser Republik auf politischem und juristischem Gebiet. Die Aufzählung einiger markanter Beispiele endet mit dem Verweis auf Weimars Ende: "Sehr bezeichnend, daß selbst der schäbige Rest von Liberalismus, den es im Reichstag vom März 1933 gab, dem Mörderführer das Vertrauen aussprach und für das Gesetz stimmte, durch das er ermächtigt wurde zu dem, was dann kam. Schwarzrotgoldener als die Deutsche Staatspartei konnte niemand sein. Ich erachte es als moralisch unmöglich, die Farben Schwarz-Rot-Gold wiedereinzuführen." In seinen Erwägungen fährt Hiller fort:
"Natürlich kann nicht die Wiedereinführung der Farben Schwarz-Weiß-Rot ernsthaft erwogen werden. Zwar war das kaiserliche Schwarzweißrot ehrlicher als das hindenbürgerliche Schwarzrotgold, aber es kann für deutsche Fortschrittler den Charakter eines Sinnbilds für Nationalismus, Imperialismus, Bellizismus, Kulturfeindlichkeit, Rückschritt nicht mehr verlieren. In Verbindung mit einem bekannten Ornament war es ja auch die Fahnenfarbe der Nazis.
Was bleibt? Soll man Schwarz-Weiß wählen? Süddeutschland dankt für neue Preußerei. Soll man Weiß-Blau wählen? Westdeutschland dankt, bei aller Freude an Alpenlandschaften, Münchener Architektur und dunklem Bier, für eine Vorherrschaft Bayerns in Deutschland. Also was bleibt? Kritisch meckern ist leicht, wenn man keinen positiven Vorschlag hat.
Ich habe einen. Ich schlage anstelle eines alten Symboles aus der demokratischen Mottenkiste ein neues vor. Neue Symbole (und übrigens nicht Symbole nur) sind immer dem Gespött der Philister ausgesetzt. Was schiert unsereinen das Gespött der Philister!
Ich beantrage, als Fahnenfarbe des neuen Deutschlands BLAU zu wählen. Einfarbig-Blau.
Begründung:
1) Warum nicht einfarbig? Warum denn irgendeine erklügelte Kombination? Das Komplizierte ist oft (beispielsweise in philosophischer Prosa) sehr angebracht; wo jedoch Schlichtheit hingehört, bin ich für das Einfache und Schlichte.
2) Alle andern Einfarben, fast alle, sind vergeben. Weiß bedeutet die Abstinenz oder die Kapitulation, Gelb die soziale Quislingerei, Rot den Marxismus, Braun den Nazismus, Schwarz den Fascismus, den Anarchismus oder den Klerikalismus, diesen auch Violett, während Grün die heilige Farbe des Islams ist. Rosa und Lila sind etwas süßlich, Grau ist die Theorie, Orange eine holländische Angelegenheit (Haus Oranien). Bleibt Blau.
3) So wenig Blau politisch bisher vergeben ist, so sehr umspielen diese Farbe doch Assoziationen. Denkt man an Treue, so ist das ja wohl kein Fehler. Denkt man an Augen - bitte. Denkt man an wolkenlosen Himmel oder an Bergseen, so finde ich beides schön. Warum soll eine Fahne nicht schön sein? Und denken unsre lieben Irrationalisten an die "blaue Blume der Romantik", so ist just dies die Konzession, die ich unverbesserlicher Ratio-Mann ihnen zu machen bereit bin.
4) Schwarzweißrot beleidigt die Schwarzrotgoldenen. Schwarzrotgold beleidigt die Schwarzweißroten (und mich). Rot beleidigt die Gegner des Sozialismus. Blau beleidigt niemanden.
5) Es kränkt niemanden, und, da es neu ist, stellt es - in diesem Zusammenhang - vor allem ein Symbol des Traditions-Unbeschwerten, des Frischen, des Schöpferischen dar. So etwas wie: neues Leben aus den Ruinen; wie: Phönix aus der Asche. (Statt Ruinen und Asche museal aufzubewahren; Schwarzrotgold konserviert, restauriert, ist museal.)
Nun lache, Philister!
Beliebst du aber, um nicht als Philister zu erscheinen, fachmännisch-seriös den "rein technischen" Einwand zu machen: Blau hebt sich vom Hintergrund des blauen Himmels nicht ab, so wisse, daß es verschiedene Blaus gibt und für Wasserblau, Türkisblau, Vergißmeinnichtblau und ein helles Ultramarin, auch ein blasses Indigo gelten mag, was beispielsweise auf ein sattes, halbdunkles Kobaltblau mitnichten zutrifft. Beschließen deutsche Politiker mit Fingerspitzengefühl für Imponderabilien die Flagge Blau, so wird es an deutschen Malern und deutschen Chemikern nicht fehlen, die das technisch geeignete Blau dann schon finden."

Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 16 der Hiller-Gesellschaft

Vor 100 Jahren promovierte Kurt Hiller in Heidelberg

Sein Jura- und Philosophie-Studium in Berlin schloß Hiller im November 1907 als Externer in Heidelberg ab. Wie in seiner Autobiographie geschildert verfaßte Hiller eine rechtsphilosophische Arbeit unter dem Titel "Das Recht über sich selbst", in der er die Forderung aufstellte, daß das damalige Strafrecht der Selbstbestimmung des Menschen wesentlich mehr Spielraum gewähren müsse. Es dauerte dann Jahrzehnte, bis Hillers Forderungen nach einem liberalen Sexualstrafrecht und der freien Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch realisiert wurden.
Sein Juraprofessor Franz von Liszt bezeichnete Hillers Arbeit als "philosophische Arbeit"; sein Philosophieprofessor Georg Simmel empfand sie als "juristische Arbeit". So ging Hiller ins liberale Heidelberg, wo sie vom späteren Reichsjustizminister Gustav Radbruch anerkannt wurde. Allerdings waren Hillers Forderungen damals so brisant, daß nur einige Kapitel seiner Arbeit, über das Recht auf Selbstmord, als Dissertation anerkannt wurden. Im Heidelberger Verlag Carl Winter erschienen dann Anfang 1908 Hillers erste Bücher "Das Recht über sich selbst" und als separater Auszug daraus die Dissertation "Die kriminalistische Bedeutung des Selbstmordes".
Da die Doktorurkunde Hillers in seinem Nachlaß fehlt (entweder durch Diebstahl der SS 1933 oder durch Schlamperei seines früheren Nachlaßverwalters), wandte ich mich an das Universitätsarchiv Heidelberg, dessen Leiter Prof. Dr. Werner Moritz freundlicherweise die Recherchen vornahm. Es kam dabei heraus:
In den Wirren nach 1945 gingen die Promotionsakten der Juristischen Fakultät von 1907-1911 verloren. Auch unter einigen Akten zur "Zulassung zur Promotion" findet sich nichts über Hiller. Ebenfalls fehlt er in einer separaten Promotionskartei.
Prof. Moritz fand aber andere Unterlagen, aus denen hervorgeht:
Hillers Doktorvater Prof. von Lilienthal bewertete die schriftliche Prüfung ("Das Recht über sich selbst") mit der Note 3 (Hiller spricht in seiner Autobiographie von "Sehrgut"). Die mündliche Doktorprüfung am 27.11.1907 erbrachte die Note 4 (wie von Hiller im "Logos" geschildert). Die rechtsgültige Promotionsurkunde wurde am 12.2.1908 ausgefertigt.
Die Nationalsozialisten bürgerten ihre Gegner wie Hiller nicht nur aus, sondern entzogen diesen vielfach auch den Doktorgrad, da sie "durch ein Verhalten, das gegen die Pflicht zur Treue gegen Reich und Volk verstößt, die deutschen Belange geschädigt" hätten. Aufgrund eines Erlasses des Reichs- und Preußischen Ministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung faßte die Heidelberger Juristische Fakultät am 27.4.1938 den Beschluß, Hiller die Doktorwürde wegen "Unwürdigkeit" zu entziehen, unterzeichnet vom damaligen Rektor Krieck. Nach dem Krieg wurden diese Aberkennungen des Doktortitels revidiert.
Drei Freunde Hillers hatten ein Jahr vor dem "Goldenen Doktor" in Schreiben an die Universität Heidelberg auf dieses Jubiläum aufmerksam gemacht und um dessen Würdigung gebeten. Üblich war wohl die Ausstellung einer Goldenen Doktorurkunde, aber nicht für jeden Goldenen Doktor automatisch, sondern nach Prüfung der wissenschaftlichen Leistung. Ohne Kommentar wurde Hiller diese Ehrung nicht zuteil, weshalb er ein Jahr später (27. November 1958) einen erbosten Brief an den Rektor der Universität schrieb mit der Bitte um Angabe von Gründen. Rektor Wilhelm Hahn schrieb lapidar zurück, daß Ehrungen zum Goldenen Doktor Sache der jeweiligen Fakultät seien.
Der damalige Dekan der Juristischen Fakultät, Prof. Niederländer, hatte die Frage der Ausstellung eines Goldenen Doktordiploms der Fakultät vorgelegt, welche aber beschloß, "der Angelegenheit keinen Fortgang zu geben". Nun, Ende 1958, sollte der Dekan Hiller ein Antwortschreiben zusenden, aber dies unterblieb aus unerfindlichen Gründen.
Das Ganze kam noch einmal 1965 aufs Tableau, als der Asta der Universität Heidelberg Hiller zu einer Vorlesung einlud. Hiller hatte inzwischen anderweitig erfahren, daß seine Nichtehrung auf einem Beschluß der Juristischen Fakultät beruhte, den er wie folgt kommentierte: "Mehr noch als sein verletzender Inhalt mißfällt mir, daß er heimlich gefaßt wurde, ich meine: in Abwesenheit des Brüskierten oder eines seiner Vertreter, und daß mir die Gründe nicht mitgeteilt wurden, aus denen man mich diskriminierte. Ich kenne sie bis heute nicht. Unter diesen Umständen sehe ich keine Möglichkeit, im Rahmen der Universität Heidelberg als Interpret meiner Schriften aufzutreten, - es sei denn, die Juristische Fakultät entschuldigt sich bei mir. Geschieht das, dann werden Verhandlungen zwischen der Heidelberger Studentenschaft und mir bestimmt auf keinerlei Schwierigkeiten stoßen."
Hillers Wirken als schriftstellernder Jurist, welches im Band 3 unserer Schriften gewürdigt werden wird, hätte bestimmt vor jeder "Prüfung der wissenschaftlichen Leistung" zwecks Überreichung einer Goldenen Doktorurkunde bestanden.
Die dankenswerten Recherchen von Prof. Moritz vom Universitätsarchiv haben immerhin einige Rahmendaten zu Hillers Promotion in Heidelberg zutage gefördert.

Harald Lützenkirchen

Das Institut für Zeitgeschichte, München, erwirbt Briefe an Hiller

Dieses Münchner Archiv besitzt durch den Erwerb von Nachlässen 4 nennenswerte Konvolute von Hiller-Briefen, nämlich die an Eugen Brehm (Exilgruppe Deutsche Volkssozialisten), Hans Jaeger (gleiche Gruppe), Gerhard Gleissberg (Journalist beim "Vorwärts" und der "Anderen Zeitung") und Walter Hammer (Errichter der KZ-Gedenkstätte Brandenburg). Nun findet der Forscher im IfZ durch Erwerb aus dem Hiller-Nachlaß auch die Gegenbriefe an Hiller, ca. 240 von Brehm, 550 von Jaeger, 170 von Gleissberg und 100 von Hammer. Da von den Briefen Jaegers 530 handschriftlich sind, wurden sie mit Sicherheit noch nie für die Forschung ausgewertet und bergen ein enormes Potential zur Erforschung der Gruppe "Deutsche Volkssozialisten" und "Gruppe 1943", aber auch zu Hillers Exil-Gruppen FDS und GUDA.

Hillers Beitrag zur Lyriktheorie

Dr. Rudolf Brandmeyer, Literaturwissenschaftler an der Universität Duisburg-Essen, betreut eine Internetseite, die sich mit Lyriktheorie befaßt. Neben einem historischen/systematischen Artikel über die Lyriktheorie findet man dort auch Texte von Literaten, die einen bedeutenden Beitrag zur Lyriktheorie darstellen.
Nun ist auch Kurt Hiller als Lyriktheoretiker auf dieser Webseite vertreten. Zum einen mit seinem Text "Gegen ‚Lyrik'", erschienen 1911 in der Zeitschrift "Der Sturm", wiederabgedruckt in Hillers Buch "Die Weisheit der Langenweile" von 1913. In diesem Artikel erklärt Hiller den Begriff "Lyrik" für deplaziert: "Warum [...] der Name ‚Lyrik'? Hat denn dergleichen mit Lyra und Lied etwas zu schaffen? Mit fahrenden Sängern und dem pfeifenden Handwerksbursch? Mögen immer die strengen Magister der Fröhlichkeit, die behaglichen Lobpreiser einer gemeinverständlichen Melancholie, kurz die (so aufrichtigen) Verfechter des klassischen und romantischen Volksgedudels diese Frage bejahen: das Beste von Goethe und die tränentreibende Wunderpracht, die Hölderlin, George, Rilke uns geschenkt, ‚Lyrik' zu nennen - darüber lacht mein Ohr und krümmt sich mein Sprachgefühl. Wenn wirklich Bezeichnungen wie Gedicht, Dichtung, Wortkunst nicht genügen, dann ziehe ich der ‚Lyrik' immer noch die ‚Poesie' vor." Ferner verweist Hiller auf die großstädtischen Gedichte der "Kommenden", die von Konservativen nicht als "Lyrik" angesehen würden. Deshalb wählte Rudolf Brandmeyer konsequent als zweiten Artikel Hillers sein Vorwort zur von ihm herausgegebenen Gedicht-Anthologie "Der Kondor" von 1912 aus, da es sehr viele literaturtheoretische Erörterungen zu den im Buch abgedruckten expressionistischen Gedichten liefert. Rudolf Brandmeyer in einer Mail: "Als ich Hillers Texte noch einmal bedachte, [war ich] doch sehr zufrieden [...], ihn in meiner Anthologie zu haben. Er hat früh, ja sehr früh, erkannt, wohin es ging und konnte es klar sagen. Er ist zweifellos ein Pionier und ein guter Vermittler dazu."
www.uni-duisburg-essen.de/lyriktheorie

Reprint des FWV-Taschenbuchs von 1908

Die Freie Wissenschaftliche Vereinigung war eine studentische Verbindung an der Berliner Universität, die neben der Organisation von Vorträgen auch "Monatsberichte" und dazu "Beigaben" publizierte. Nach mehrjähriger Mitgliedschaft in der FWV verließen Anfang 1909 neben Hiller auch Erwin Loewenson, Jakob van Hoddis und andere angehende Literaten diese Vereinigung, um im März 1909 den "Neuen Club" zu gründen, die Keimzelle des Literarischen Expressionismus. Die Schriften der FWV dokumentieren somit die Erstlingswerke der frühen Expressionisten.
Prof. Dr. Manfred Voigts vom Bereich Jüdische Studien der Universität Potsdam besorgte sich das sehr selten zu findende Taschenbuch der FWV, welches Ende 1908 erschienen war. Es enthält neben Artikeln zur FWV (davon einer von Loewenson) die Auflistung der gehaltenen Vorträge (fünf Vorträge Hillers 1906-1908). Manfred Voigts wird voraussichtlich im Herbst dieses Taschenbuch neu herausgeben, ergänzt um einige aktuelle Artikel über die FWV; so von unserem Mitglied Michael Buchholz über Max Steiner und von Harald Lützenkirchen über Kurt Hiller als FWV-Mitgliedern.

Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 15 der Hiller-Gesellschaft

100 Jahre Weltbühne (Nachlese)

Von der sehr gelungenen Ausstellung "100 Jahre Weltbühne" wurde bereits im Nachrichtenbrief vom Dezember 2005 berichtet. Auf eine Wiedergabe der prägnanten Hiller-Zitate verzichtete ich damals bewußt, um den Besuchern aus dem Kreis der Hiller-Interessenten die Entdeckerfreude nicht zu nehmen. Nun soll dieses Versäumnis nachgeholt werden.

Schautafel: Armes Kapital! Was hat das zu leiden!
1919-1933 Gegen die soziale Misere
Gegen die Arbeitsdienstpflicht von Kurt Hiller, "Weltbühne" vom 19. Juni 1924
Wir müssen durchaus unterscheiden zwischen einer Pflicht zu arbeiten, und einem Zwang zu bestimmter Arbeit. Den Satz der Bibel und des Sozialismus, daß, wer nicht arbeitet, auch nicht essen soll, anerkennen, heißt nicht: an dem seit der endgültigen Abschaffung der Sklaverei in Europa geltenden Grundsatz rütteln, der die Freiheit in der Wahl der Arbeit verbürgt.

Schautafel: Krieg gleich Mord
1919-1933 Bekenntnis zum Pazifismus
Aus meinem Kalikobuch von Kurt Hiller, "Weltbühne" vom 4. September 1928
Die nächste ‚Mobilmachung' muß sofort eine Gegenmobilmachung auslösen: eine Mobilmachung aller derer, die sich nicht schlachten lassen wollen, gegen ihre Schlächter. Diese Mobilmachung allerdings muß gründlich präpariert sein; für sie gilt: " Si vis pacem, para bellum" - wenn du den Frieden mit deinen Schlächtern willst, bereite den Krieg gegen sie vor!

Schautafel: Wir Juden mitten drin
1919-1933 Zwischen Emanzipation und Antisemitismus
Warnung vor Koalitionen von Kurt Hiller, "Weltbühne" vom 23. September 1930
Ihr seid, liebe Juden, (als solche) verdammt uninteressant. Wenig mehr als eine halbe Million von euch lebt unter einigen sechzig Millionen Deutschen; immerhin gibt es soziale Probleme, die für mehr als bloß ein Prozent der Bevölkerung bedeutsam sind! Der Judenhaß des Natio-nalsozialismus [...] ist töricht und niedrig (soweit er nicht einfach Gegenstand der Psychopathologie ist); aber der Nationalsozialismus, liebe Juden, ist noch etwas andres als Judenhaß.

Schautafel: Unsere Warnungen waren berechtigt
März 1933 Die "Weltbühne" wird verboten
Das letzte erschiene Heft
29 (10) vom 7. März 1933
Auf dem abgebildeten Ttelblatt steht auch die Überschrift des Artikels
Heroismus und Pazifismus von Kurt Hiller

Schautafel: Terror als Regierungsprinzip
1933-1935 Autoren der "Weltbühne" verhaftet, ermordet und vertrieben
Antworten ("Neue Weltbühne" vom 21. September 1933)
Kurt Hiller befindet sich, wie ein nach London geflüchteter Mithäftling mitteilt, seit dem 14. Juli 1933 mit ungefähr 150 anderen Gefangenen in der ehemaligen Militärarrestanstalt der Garnison Berlin auf dem Tempelhofer Feld. "Ein Drittel der Häftlinge", schreibt der Gewährsmann in der ‚Wahrheit', "besteht aus Juden, von denen kaum ein Viertel ohne schwere Verletzungen ist... Wer beim Laufschritt etwas zurückbleibt, erhält Fußtritte, wer nicht schnell genug ist, kommt zur Strafe in den Keller. Dabei wird hinzugefügt, daß auch die Stahlruten tanzen." Die deutsche Regierung möge wissen, daß die Welt Kurt Hillers ebensowenig vergessen wird wie all die tausende gemarterten Opfer des Göringsadismus."

Schautafel: Am Anfang ein Versprechen
1946-1968 Neugründung mit Auftrag der KPD. Unter Kontrolle der SED
1. Jg., Nr. 1, 4. Juni 1946
Zum Geleit!
Freunde!
Am Anfang ein Versprechen: Solange ich lebe, soll dieses Blättchen ein Versuch sein, das Lebenswerk meines Mannes, des Demokraten und Pazifisten
Carl von Ossietzky
fortzusetzen.
Meine Mitarbeiter werden so gewählt sein, daß es gelingen muß, sein Vermächtnis zu erfüllen...

Unterm Strich
Der Titel, der Deckel, die Denke und Tendenz dieser "Weltbühne", was sind sie? Eine einzige, permanente Leichenschändung an Carl v. Ossietzky, mit dessen Namen sie prunkt!"
Kurt Hiller "konkret" Juli 1962

Schautafel: Autoren der Weltbühne mit 37 Porträts plus Kurzinformation
Kurt Hiller (1885-1972)
Zwischen 1915 und 1933 erschienen 167 Artikel, 47 in der "Neuen Weltbühne".
Hillers Porträt wurde zwischen Karl Schnog (1897-1964) und Rudolf Arnheim (geb. 1904) angeordnet.

Dr. Peter Böthig, der Leiter des Kurt Tucholsky-Museums in Rheinsberg, teilte mit, daß die Ausstellung im Literaturarchiv Sulzbach-Rosenberg bis 8. Oktober 2006 verlängert wurde. Die nächsten Stationen werden nun im Februar/März 2007 das Koeppenhaus in Greifswald und im April/Oktober 2007 das Fallada-Haus in Carwitz sein. Verhandlungen zu einer möglichen weiteren Station, der Stadtbibliothek Berlin, laufen noch.
Till Böttger

Kurt Hiller und Erich Zeigner

Kurt Hiller und Erich Zeigner sind sich persönlich nie begegnet, sahen sich aber als Geistesverwandte an. Hiller hegte gegenüber Zeigner eine lebenslange Hochachtung. Er hat in seinen Schriften und Briefen Zeigner mehrfach erwähnt, weil er in diesem einen jener Geistigen sah, die nach seiner Theorie eine Logokratie, eine Herrschaft der Geistigen, auszuüben befähigt seien.
Erich Zeigner (1886-1949), von Hause aus Jurist, war zunächst als Staatsanwalt und Richter an sächsischen Gerichten tätig. Vor allem unter dem Einfluß des 1. Weltkrieges hatte sich Zeigner zum Sozialisten gewandelt. In jungem Alter wurde er schon 1921 sächsischer Justizminister. Zweimal stand er in seinem Leben auf verantwortlichen Posten: 1923 kurzzeitig, ein halbes Jahr, als Ministerpräsident einer sog. Arbeiterregierung in Sachsen, davon 19 Tage mit KPD-Ministern, von ihm selbst als "Regierung der republikanischen und proletarischen Verteidigung" bezeichnet, im Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen, die gewaltsam und verfassungswidrig im Rahmen einer Reichsexekution durch die Reichswehr beendet wurden; 1945-1949 als Oberbürgermeister von Leipzig gestaltete er den Wiederaufbau der Großstadt aus den Trümmern des 2. Weltkrieges in enger Verbindung mit radikalen gesellschaftlichen Umgestaltungen (z. B. Entnazifizierung, Volksentscheid zur Enteignung von Nazi- und Kriegsverbrechern).
Der 1999 gegründete Verein Erich-Zeigner-Haus e. V. pflegt das Andenken an Erich Zeigner durch politische Bildungsarbeit in der geistigen Tradition Zeigners und den Erhalt seiner ehemaligen Wohnung im Haus Zschochersche Straße 21, in der Bibliothek, Arbeits- und Musikzimmer Zeigners teilweise im originalen Zustand erhalten geblieben sind.
Am 17. Februar 2006 gedachte der Verein des 120. Geburtstages seines Namensgebers. Am Nachmittag fand am Grab Zeigners auf dem Leipziger Südfriedhof eine Kranzniederlegung statt, an der Leipzigs Oberbürgermeister B. Jung, Vertreter von Linkspartei.PDS, SPD und IG Metall teilnahmen. Am Abend sprach im Zeigner-Haus der Historiker Dr. Manfred Hötzel (Leipzig) unter dem Thema "Ansichten und Bekenntnisse. Aus Briefen und Tagebüchern Erich Zeigners" zur Persönlichkeit Zeigners.
Der Vortrag behandelte auf der Grundlage meist unveröffentlichter Briefe Charakter und Handlungsmotive Z.s in bisher wenig beachteten Lebensabschnitten: die Jahre als Redner 1926-1931, die Zeit des 2. Weltkrieges sowie die privaten Briefpartner in der OBM-Zeit.
Dabei wurde auch der Briefwechsel zwischen Hiller und Zeigner aus den Jahren 1946-1948 genutzt.
Im Hiller-Nachlaß, der sich im Besitz der Kurt Hiller Gesellschaft e. V. befindet, sind 3 Briefe Hillers und 5 Briefe Zeigners überliefert. Deren Duplikate konnten bis jetzt nicht im Zeigner-Nachlaß im Stadtarchiv Leipzig aufgefunden werden. Daneben hat es noch weitere Briefe gegeben. Der Vorsitzende der Hiller-Gesellschaft, Dr. Till Böttger (Leipzig), der unter den Zuhörern begrüßt werden konnte, hatte dankenswerter Weise dem Referenten Kopien der überlieferten Briefe zur Verfügung gestellt.
Die Kontaktaufnahme erfolgte 1946 durch Hiller, der sich aus London bei Zeigner in Leipzig nach dessen Schicksal im Dritten Reich und nach anderen gemeinsamen Bekannten erkundigte. Z. ging sofort auf den respektvollen, aber freundschaftlichen Tenor H.s ein. Der reichhaltige Inhalt der in größeren Abständen ausgetauschten, aber dafür meist umfangreichen Briefe kann hier nicht referiert werden. Zwei gewichtige und zeitgeschichtlich besonders interessante Aspekte seien aber genannt. H. äußerte seine Absicht, nach Deutschland zurückzukehren.
Z. lud H. ein, nach Leipzig überzusiedeln. Als OBM war Z. sehr daran gelegen, prominente Wissenschaftler und Intellektuelle, besonders aus der Emigration, in die wiederaufstrebende Messe- und Universitätsstadt zu holen. H. fühlte sich geschmeichelt, lehnte aber eindeutig, wenn auch in höflicher Form ab. Mit Blick auf KPD und sowjetische Besatzungsmacht meinte er, er wolle weder geistigen noch physischen Selbstmord begehen. Z. bekundete zwar Verständnis, ein erster Dissens war aber entstanden.
Als Z. andeutete, es gebe Pläne, die ihn von Leipzig fortführen könnten, und er sich mit allge-meinen Fragen der deutschen Politik befassen müsse und das im Zusammenhang mit der Hoffnung auf eine deutsche Zentralverwaltung, verstand H. sofort. In einer Art Lobrede sah er den geeignetsten Kandidaten als gesamtdeutschen Ministerpräsidenten, dessen Chance er als eine "schöne Eventualität" bewertete, in der Person seines Briefpartners.
Danach verlor der Briefwechsel an Intensität. Ob die Ursache in der zunehmenden Überlastung Zs oder in Hillers Ablehnung der Zeignerschen Einladung lag, muß noch genauer untersucht werden.
Die Veranstaltung war für hiesige Verhältnisse gut besucht. Die rund 50 Anwesenden verkörperten in vieler Hinsicht einen repräsentativen Querschnitt der Leipziger Einwohner.
Zeigner ist in Leipzig (es gibt neben dem Zeignerhaus noch eine Erich-Zeigner-Schule und eine Erich-Zeigner-Allee) und z. T. auch in Sachsen noch ein relativ bekannter Name, über die regionalen Grenzen hinaus aber kaum noch im historischen Bewußtsein, wenn nicht vergessen. Bei Hiller scheint es eher umgekehrt zu sein. Als Autor der Weltbühne und kritischer Publizist ist er dank der Kurt Hiller Gesellschaft in intellektuellen Kreisen wieder ein Begriff, aber in Leipzig fast unbekannt. Das zeigte sich in der Frage eines Besuchers, ob der Leipziger Straßenname Hillerstraße sich von Kurt Hiller herleite. Das trifft nicht zu. In Leipzig kann es nur ein Thomaskantor gewesen sein. Namensgeber der bewußten Straße war Johann Adam Hiller (1728-1804), Komponist, Musikschriftsteller und 1789-1801 Thomaskantor. Dabei hatte es in Leipzig vor fast zehn Jahren (Oktober/November 1997) die verdienstvolle und umfangreiche Ausstellung der Universitätsbibliothek "Kurt Hiller 1885 - 1972 - Ein Schriftsteller mischt sich in die Politik" gegeben. Die Ausstellung besaß damals für das Gebiet der ehemaligen DDR eine Pilotfunktion. Erstmals wurde nach Jahrzehnten des Verschweigens Leben und Werk Hillers in der Öffentlichkeit vorgestellt.
Der Verfasser beabsichtigt, demnächst eine ausführliche Analyse des Briefwechsels Hiller-Zeigner und des Verhältnisses Hillers zu Zeigner vorzulegen.
Manfred Hötzel

Kurt Hiller im Gespräch mit Kurt Schumacher

In seiner Autobiographie "Logos" erwähnt Hiller ein Treffen mit Kurt Schumacher und anderen Sozialdemokraten, bei dem vorwiegend über die sozialdemokratische Presse gesprochen wurde. Es fand am 1.11.1951 in Bonn als Abschluß einer mehrwöchigen Deutschlandreise Hillers statt. Neben Kurt Schumacher nahmen von der SPD Carlo Schmid, der langjährige Pressechef Fritz Heine und Schumachers Sekretärin Annemarie Renger teil.
Vor vielen Jahren befragte ich Fritz Heine und Annemarie Renger nach Erinnerungen und Aufzeichnungen über das damalige Gespräch, doch Details waren nicht mehr zu ermitteln.
Im Hiller-Nachlaß fanden sich jetzt eine Postkarte und ein Brief Hillers an seinen Freund Walter Detlef Schultz, in denen Hiller von dem Treffen berichtet. (Im Nachfolgenden wiedergegeben ohne Anmerkungsapparat, der sehr umfangreich ausfiele).
Auf der Postkarte vom 1/XI 51 schreibt Hiller: "Heute - das war die Krönung meiner 5½ Wochen-Reise: ich speiste soeben (Hamburger Krebssuppe, Hasenrücken und Roquefort) zusammen mit Dr. Kurt Sch., Professor Carlo Schm., Frau Renger und Fritz Heine. Wir waren 2½ Stunden zusammen. Wie ich über die drei Männer denke, weißt Du; ich lege wert darauf, Dir zu sagen, daß Frau R. mir in geradezu extremem Grade sympathisch ist..."
Im Brief vom 4/XI 51 berichtet Hiller zunächst von seiner Lesung ("Der Sinn des Lebens") in der Düsseldorfer Galerie Nebelung, die vom DGB-Vorstandsmitglied Ludwig Rosenberg organisiert worden war. Hiller fährt fort:
"Rosenberg tat ein zweites: er veranlaßte meinen Empfang in Bonn, 1/XI, zum (hochfeudalen) Mittagessen. Du erhieltest hoffentlich meine kurze Karte aus Bonn, ich schrieb sie unmittelbar nach dem Vorgang. Laß mich hinzufügen:
a) allerstärksten Eindruck machte auf mich Frau Renger. Sie ist wohl Ende zwanzig, vielleicht auch schon dreißig durch, sieht aber wie 24 aus und ist eine ... nicht geradezu "Schönheit", aber Dame von ungewöhnlichem Liebreiz und Takt (blond), der lebendige Ausdruck helfender Güte, dabei gebildet, geistoid bis geistig, nicht humorlos, vor allem total frei von Wichtigtuerei, schiefer Eingebildetheit, Angeberei vonwegen des Großen Mannes, den sie betreut. Alles, was ich an jüdischen Dreiviertelintellektuellinnen nicht ausstehn kann, fehlt ihr; und was mich an spitzäugig-sittlichen TheodorStorm- oder Jaspers-Gouvernanten der doitschen Scholle (vaschtehste) ankotzt, fehlt ihr erst recht. Sie ist weder Nazinde/Nonne/Noskin/Isktante/Bäumergertrud/Sozialfunktionärin/"Erzieherin" noch Caféhauszigeunerin mit Lausehaar noch linientreue Suprahexe, hager mit leichtem Spitzbart. Aber eben auch keine süße Tipse, kein tumbes Gretchen, vom Genie Faust emporgehoben. Wenn mein Richard Linsert, dessen Tod (mit 33) ich nie verschmerzen werde, obwohl das Schicksal mir Dich dann gab, eine Frau gewesen wäre -: so ist Frau Renger. Ich stehe zu dieser Frau fast schwärmerisch...
b) Carlo war charmant zu mir, aber sehr auf esprit bedacht, ein wenig feuilletonesk, eindruck-schinderisch, furchtbar über einige Leute herziehend, die ich (er ahnte es nicht) sehr schätze, so etwa Karsch und Prof. W.G. Becker, sachlicis eher ausweichend. Bonvivant vom Mittelmeer, nicht ganz unfalstaffisch, Sozialist nicht aus Logosleidenschaft, eher aus gutem Geschmack (weil unethische Politik kafferntümlich ist ... etwa).
c) Heine war ultra-bescheiden und behandelte mich sichtlich nur deshalb so respektvoll, weil ihm schrecklich imponierte, daß Majestät mich, den Unparteiler, zu intimstem Diner eingeladen hatte. Kinder, muß der Hiller wer sein! ging in ihm vor. (Schadet nichts!)
d) Majestät - tja, das war schon ein Erlebnis. Die tragische Kaputtheit, Ruinenhaftigkeit dieser Gestalt (auch ohne Zähne!) ist zuerst verwirrend, dann entwaffnend, schüchternmachend, zusammen mit der Energie und Aktivität des Mannes einfach in Anbetung zwingend. Diskutiert man mit ihm (und ich tat es 2½ Stunden lang!), so diskutiert man mit ungleichen Waffen. Man hat die schwächere; man wäre, fühlt man, ein Barbar und Lumpenhund, wenn man auf ihn so scharf reagierte, wie mans sonst in Debatten gewohnt ist. Kurt Sch. war während dieser 2½ Stunden ... zu mir ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle, aber er war philosophisch nicht auf jener Höhe, die ich als Leser seiner Kundgebungen erhofft hatte. Ich übertriebe, wollte ich sagen, er habe mich enttäuscht; doch er war um eine Nuance zu sehr Parteianer und um eine Nuance zu burschikos (in der Polemik gegen Dritte, etwa gegen todanständige Edelkonservative wie Pechel oder gegen die AKTION der beiden Schwestern in Frankfurt ... oder gegen Altsozialdemokraten wie Grimme, Löbe, Stampfer; jedesmal hatte er recht, aber auf eine billigere oder gepfeffertere Art, als selbst mir lieb ist). So komisch es Dir klingen wird -: ich verteidigte bei Schumacher ... Reutern! (Er bei mir Lasky und dessen scheußlichen >Monat<, wegen Niveaus!) Ich kam mir als der Objektivere, Gerechtere, Tolerantere von beiden vor, ... ich!!!!!!! Er kritisierte die Mißliebigen atelierhaft-caféhäuslerisch-cliquenselbstverständlich-privatterminologisch-routinemäßig-bösartig, - während ich Kritik aus nietzschetiefer Philosophie oder goethehoher Überlegenheit (die den Haß nicht ausschließt) erwartet hätte. Er war eine Art verbitterter Bismarck von 1893, der mit Walter Lippmann sich zu unterhalten glaubt. Vielleicht hielt er mich auch für eine Kreuzung aus Polgar, Ossietzky, Kerr und Tucholsky, für einen zufällig durch Moskau herausgeforderten ultralinken Witzmann oder so, mit dem freundlich zu stehen für die SPD nützlich sein könne. Man honorierte in mir den "begabten, etwas gefährlichen Mann mit der spitzen Feder"; den politischen Theoreten mit Realisierleidenschaft schien man nicht zu kennen, nicht ernstzunehmen oder nicht zu achten. Was mich mit den genannten Litteraten verbindet, sah man; nicht, was mich mit Platon, Kant, Nietzsche, Nelson, Coudenhove oder Russell verbindet. (Oder mit Nehru.) Zuweilen sprachen die beiden Kürte zwei verschiedene Sprachen; als ich das Thema Wiedervereinigung Deutschlands, Stalin's Ängste und Absichten, die guten Folgen einer Vereinigung für die deutsche Innenpolitik (Erdrutsch nach links hin), die Diskrepanzen Moskau/Pankow aufs Tapet zu bringen versuchte, äußerte Kurt Sch. Geistvoll-Kompliziertes, das ich einfach nicht verstand (als stammte es von Ernst Bloch), und ich selber fühlte mich unverstanden. Vielleicht auch wollten sich Kurt und Carlo von mir (und von Heine! oder gar voneinander!!!) nicht in ihre russosophischen Karten kucken lassen; wer weiß? Jedenfalls gelang mir eine frischfröhlichklare Diskussion über diese mir so überaus wichtige und dringliche Frage ("Volksbewegung") nicht! Ganz im Gegensatz zu den freisozialistischen Abenden in Bln und Hbg! Fast die ganze Zeit wurde, außer durch großartiges Essen, durch eine Debatte über die Lücken und den Tiefstand der deutschen Linkspresse ausgefüllt. (Man sah in mir eben den Publizisten, nicht den Politiker ... leider). Kurt Sch. kam immer wieder darauf zurück, daß die SPD zu arm sei, um eine Niveaupresse aufbauen zu können; Kurt H. immer wieder darauf, daß Niveau kein Geld koste, sondern lediglich einen Entschluß - den Entschluß, nicht spießbürgerlich zu sein, sondern leserpädagogisch, und Ausgezeichnete zum auslesenden Prinzip zu machen. Ich riet, den Kommunisten (in ihrer münzenbergischen Glanzzeit) das Tarnen nachzumachen, vielmehr eigentlich nicht das Tarnen, sondern ganz offen überparteiliche Blätter, wenigstens eines, herauszugeben, wo dann doch die letzte Lenkung in der Hand der SPD-Führung liege: welche freilich unkleinlich sein müsse. Eine LINKSKURVE, einen ROTEN AUFBAU auf sozialdemokratisch, mit lauter fellow-travellers der Sozialdemokratie, ganz offen, ohne Verhehlerei. (Ich sagte nicht, aber meinte: Wenn die SPD eine in der Gutgeschriebenheit und Munterkeit und Kühnheit weltbühneske Wochenschrift unter meiner Redaktion herausgäbe, so wäre das für die Partei sogar ein Geschäft, sowohl finanziell wie machtpolitisch, bei Wahlen.) Man blieb dabei: man sei zu arm. Kurt Sch. fügte hinzu: auch zu arm an schriftstellerischen Talenten; die paar, die man habe, müßten in den Parlamenten, im organisatorisch-politischen Kampfe eingesetzt werden; fürs Schreiben und Redigieren hohen Niveaus bleibe da keine Zeit und keine Kraft übrig. Auch fehle in den Leserschichten das jüdische Element, ohne welches Berliner Tageblatt und Weltbühne unmöglich gewesen wären.
Hier redeten wir zwar nicht aneinander vorbei, wie in der Grotewohlfrage - aber es standen parteianischer Geistdefaitismus und außenseiterischer Trotzalledem-Élan einander unüberbrückt gegenüber, man würde auch sagen können, das Greisentum von 1895 der Jugendlichkeit von 1885. Oder: Sozialdemokratismus (unheilbarer) dem Geiste.
Überraschend, andrerseits, war mir, daß man mir offenkundig meinen gepfefferten AntiEbertinismus nicht "verzieh", sondern, umgekehrt!, mich wegen dieses AntiEbertinismus gernhatte. Es scheint, man liebt mich als das Enfant terrible von jenseits der Parteigrenzen, das oft offen sagt, was man selber heimlich denkt, aber nicht auszusprechen wagt, weil man sonst zuviel Parteiporzellan zertöppern würde. Vom pikanten Außenseiter läßt man gern einiges zertöppern! Aber dem Außenseiter eine Position geben - nee; dazu fehlt selbst der Majestät die Genialität. Man verwirft diesen Gedanken nicht etwa, man kommt gar nicht erst auf ihn. Man lutscht den Hiller wie einen Bonbon, anstatt ihn einzupflanzen wie eine Eichel. Voilà."
Im Fortgang des Briefs schildert Hiller das kurze Kennenlernen anderer Politiker und Journalisten in Bonn.

Harald Lützenkirchen

Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 14 der Hiller-Gesellschaft

Kurt Hiller und Kurt Kersten

Prof. Richard Sheppard, der verdienstvolle Literarhistoriker (z.B. 2 Bände "Die Schriften des Neuen Clubs 1908-1914") und langjähriges KHG-Mitglied, hat uns im Frühjahr Kopien der Briefe Kurt Hillers an den Schriftsteller Kurt Kersten (1891-1962) überlassen, die sich im Leo Baeck Institute in New York befinden. Der erste Brief vom 29.05.1952 endet mit folgenden Zeilen: "Was die grosse und aktuelle Politik angeht, so stehe ich - gerade heute! - 100%ig auf der Seite Kurt Schumacher's. Gibt es nicht eine okkulte Metaphysik und manifeste Magie der Vornamen? Ich mutmasse: alle Kürte sind ‚in Ordnung'. Herzliche Grüsse und Wünsche Ihres Kurt Hiller." Es entwickelte sich ein für beide Seiten fruchtbarer Briefwechsel. Häufig wurden auch umfangreiche Briefmarkenangebote nach Ländern geordnet getauscht. Am 13.04.1953 ging dann folgender Brief von London nach New York: "Sehr geehrter Herr Doktor Kersten, sollte von Ihnen an mich ein Brief unterwegs sein, so werde ich ihn nicht beantworten. Privat-korrespondenz zwischen uns findet fortan nicht mehr statt.
Der Grund: Sie haben die Stirn gehabt, angebliche Inhalte aus meiner Privatkorrespondenz mit Ihnen der papistischen Kanaille von Frankfurt zu unterbreiten. Wieso ‚Kanaille', geht - auch für Sie - aus demselben Hefte hervor, das aus einer Ihrer Episteln an diese Gesellschaft ein Zitat enthält. Sie kann es sich nicht aus den Fingern gesogen haben.
Hinzukommt, dass die Sache ganz einfach nicht stimmt. Ich habe, als Sie mir im vorigen Jahre die Geschichte vom Ende R. Breuer's mitteilten, weder ‚einen Augenblick innegehalten' noch war ich ‚tief erschrocken'. Ich war, im Gegenteil, sozusagen ENTschrocken - weil sich mir nun herausgestellt hat, dass er keineswegs, wie hier 1943 verbreitet wurde, in einem Negergefängnis der Kolonialfranzosen als Internierter, sondern in voller Freiheit und nicht ohne fremde Betreuung gestorben war. Mein 1943 empfundenes Mitleid mit dieser durch-und-durch unerfreulichen Persönlichkeit, die mich befeindet hatte und deren Feind ich war, ist durch Ihre Mitteilung wiederaufgelöst worden. Ihr Brief an die papistische Kanaille behauptet das Gegenteil.
Dies ist umso verwerflicher, als Sie den Toten selber in unterschiedlichsten Briefen an mich als böse, ja teuflisch gekennzeichnet haben. Ihr eignes Urteil über ihn in der Zuschrift nach Frankfurt verschweigend, denunzieren Sie, als im Gegensatz zu sich selber, mich: ich sei unter denen, ‚die ihn haßten'. Ich hatte Sie zu der Weitergabe dieser Wahrheit so wenig ermächtigt wie zu der Unwahrheit, dass ich über Breuer's Ende ‚tief erschrocken war'.
Ihre weibische Indiskretion würde mich zu dem radikalen Schritte, den ich hiermit tue, wohl allein kaum bewogen haben. Auch das Unwahrhaftige Ihres Vorgehens würde dazu allein nicht ausgereicht haben, vermute ich. Aber das Zusammen der beiden Umstände reicht.
Schöne Grüße an die Professoren Forst (de Battaglia) und F.W. Förster, an General Franco, Manfred George, Heidegger, Ludwig Marcuse, Pius XII und Bruno E. Werner. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie Adenauer, Burnham, Foster Dulles und Schuschnigg mitgrüßen.
Und einem Missverständnis vorzubeugen: Die große Freundlichkeit Ihrer Plauderei über mein Buch (im AUFBAU) werde ich in dankbarem Gedächtnis behalten...wiewohl als einen Zufall. Dergleichen ereignet sich leicht bei Renegaten des Stalinismus, auf ihrem Wege über den Ebertinismus und Neo-Ullsteinismus zum Jesuitenorden.
Mit allen guten Wünschen: Kurt Hiller."

Kersten hatte in dem New Yorker Wochenblatt Aufbau-Reconstruction vol. XVIII, nr. 37 (12.09.1952), p. 10 die Buchbesprechung "Der Bekenner Hiller" zu Kurt Hillers "Der Aufbruch zum Paradies" (München 1952) veröffentlicht. Über dem 100-Zeilen-Beitrag ist übrigens die Besprechung "Der neue Hemingway" zu finden, die mit folgenden Zeilen beginnt: "Ernest Hemingway war noch nie so sehr mit einem eigenen Werk zufrieden wie mit ‚The Old Man and the Sea'".
Wenn wir nur die Briefe Hillers an Kersten kennen würden, müßten wir nun annehmen, daß damit der Briefwechsel beendet war. Aus dem von unserer Gesellschaft verwalteten Briefkonvolut Kersten/Hiller konnte aber folgendes ermittelt werden. Kersten schickte an Hiller im August 1955 einen kurzen Brief folgenden Inhalts: "Es gibt mir keine Ruhe und drängt mich Ihnen, verehrter Kurt Hiller, anlässlich des 17. August zum Ausdruck zu bringen, wie sehr ich Ihnen für Ihr ganzes Wirken, für Ihren Mut, Ihre geistige Unerschrockenheit, Ihre Klarheit im Denken, Ihren eingewurzelten Gerechtigkeitssinn dankbar bin und wie gut ich weiss, dass es heute nur wenige Vergleichbare gibt. Ich muss es Ihnen sagen, auch wenn Sie es nicht wissen wollen. Selbst wenn Sie grollen und zürnen, gaben und geben Sie Anlass sich selber zu prüfen. Kurt Kersten" Auf dem Brief steht als Beantwortungsvermerk: b (Karte; antiMarcuse) 25/IX. Der Briefwechsel und auch der Briefmarkentausch wurden also fortgeführt. Der letzte vorhandene Brief Kerstens stammt vom 20.10.1958. Nun muß in New York nachgefragt werden, ob es dort nicht auch noch die fehlenden späteren Hiller-Briefe gibt.

Till Böttger

Keimzelle der politischen Zusammenarbeit von Kurt Hiller und Kurt Tucholsky

Im Brief Kurt Hillers an Kurt Kersten vom 15.10.1952 findet sich folgende Begebenheit, die die Zusammenarbeit zwischen Kurt Hiller und Kurt Tucholsky betrifft: "By the way: Da Sie auf Martinique waren (1940-?) wissen Sie am Ende über Robert Breuer's Ende ein Ende. Da bin ich sehr neugierig. Warum? Einzig aus Hass. Unter den höchstens zwanzig fünfundzwanzig Menschen, die ich (seit 1885) redlich gehasst habe, waren gewiss nur vier oder fünf, die ich noch inniger gehasst hätte als diesen Breuer. Er war, bei aller Begabung, ein Ultraschwein. Nicht weil er ‚rechts' stand! Leute gab es, die weit ‚rechter' standen und keine Schweine waren. Die Art, wie er ‚rechts' stand, war das Stinkende. Die Überheblichkeit gegen Köpfe, die Niedrigkeiten gegen Charaktere, die enorme Lügen= und Giftquote in seinen Polemiken. Tucholsky und ich mochten ursprünglich einander nicht zu sehr; aber 1925, kurz nach Ebert's Tod, taten wir einen gemeinsamen Schritt gegenüber Siegfried Jacobsohn: wir erklärten ihm, dass wir beide unsere Mitarbeit an der >Weltbühne< einstellen würden, wenn er fortführe, Herrn Breuer von neuem (1918 war er kaltgestellt worden) politisch mitarbeiten zu lassen. Jacobsohn hatte von Breuer einen ‚schaurigen' Nachruf auf Ebert gedruckt, eine Apologie, mit Gift=Stichen in die Popos der Anti=Ebertiner. Wir fügten human, gewerkschafter=fair hinzu, dass wir nichts gegen Beiträge von ihm über bildende Kunst hätten; wir wollten dem Manne nicht das Brot wegnehmen. - Jacobsohn gab nach; Tucholsky und ich hatten also gesiegt. Und dieser duale Erfolg wurde die Keimzelle unserer politischen Zusammenarbeit. Als ich 1 1/2 Jahre später, im Sommer 1926, die >Gruppe Revolutionärer Pazifisten< gründete, gründete Tucholsky sie mit. Ihr KH."

Till Böttger

2 neue Konvolute im Hiller-Archiv

Salomo Friedlaender-Mynona / Hartmut Geerken

Der Schriftsteller, Komponist und Musiker Hartmut Geerken ist der heutige Nachlaßverwalter des Schriftstellers Salomo Friedlaender-Mynona, mit dem Hiller bis zu dessen Tod 1946 in Gedankenaustausch stand. Mynonas an Kant orientierte philosophische Aufsätze und Grotesken waren von Hiller immer wieder einmal gewürdigt worden, so vor allem dessen Werk "Schöpferische Indifferenz". Hartmut Geerken arbeitet an einer 25bändigen Gesamtausgabe der Werke Mynonas, die als book-on-demand erscheinen soll. Dem ersten Band "Kant gegen Einstein" sollen in diesem Jahr die Bände "Kant und die sieben Narren/Dialog übers Ich" und "Philosophische Aufsätze und Kritiken" folgen, in denen Hiller des öfteren erwähnt wird.
Von den Briefen Hillers an Mynona sind im Wesentlichen nur die Durchschläge erhalten geblieben, die sich im Hiller-Nachlaß finden; alle anderen Briefe sind wohl verloren. Die Briefe Mynonas an Hiller aber werden von Geerken in den geplanten drei Briefe-Bänden Berücksichtigung finden. Unser Archiv erhielt immerhin Kopien von 11 Briefen Hillers an Geerken aus den 60er Jahren, als Geerken bereits über Mynona forschte.

Richard Kraushaar

Richard Kraushaar (1898-1962) war jahrzehntelang mit Kurt Hiller befreundet. Er war Mitglied der "Gruppe Revolutionärer Pazifisten" gewesen. In den 50er-Jahren war Hiller mehrmals, auch für längere Zeit, bei Familie Kraushaar in Mainz zu Besuch.
Im letzten Jahr nahm der Sohn Kurt Kraushaar Kontakt mit unserer Gesellschaft auf und erzählte auf der Mitgliederversammlung in Hamburg von seinen persönlichen Erinnerungen an Hiller.
Nun kam es zum wechselseitigen Austausch von Kopien vorhandener Briefe. Im Nachlaß Hillers befinden sich Briefe der Familie Kraushaar an ihn aus dem Zeitraum 1935-72. Im Gegenzug erhielten wir für unser Archiv einen Ordner mit 102 Briefen/Postkarten Hillers an Richard Kraushaar aus dem Zeitraum 1922-32. Sie sind ein bedeutender Fundus und geben viele Informationen über die Weimarer Zeit und insbesondere über die "Gruppe Revolutionärer Pazifisten", die "Weltbühne" und die Vortragsreisen Hillers. Auch ein Foto findet sich:


Auf der Rückseite mit dem Vermerk: "So sah das Scheusal im Winter 1921/22 aus! (Angeblich.) Kurt seinem Richard! Berlin 25/IX 22."

Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 13 der Hiller-Gesellschaft

100 Jahre "Weltbühne"

Das "Kurt Tucholsky Literaturmuseum Schloss Rheinsberg" hat in Zusammenarbeit mit zahlreichen Leihgebern aus Anlaß des 100jährigen Jubiläums des Erscheinens der Zeitschrift "Die Schaubühne" - der Vorläuferin der legendären "Weltbühne" - im September 1905 die sehenswerte Ausstellung "Mit Haß aus Liebe - Ansichten der ‚Weltbühne'" gestaltet. Noch bis 22. Januar 2006 besteht die Gelegenheit, sich über dieses wichtige Kapitel der deutschen Publizistik in Rheinsberg zu informieren. Rheinsberg ist für Berliner und Ostdeutsche leicht zu erreichen - entweder mit der Bahn oder mit dem Auto. Informationen dazu sind auf der Homepage www.tucholsky-museum.de zu finden. Dr. Peter Böthig, der Leiter des Museums, hat mitgeteilt, daß voraussichtlich die Ausstellung auch noch von März bis Mai 2006 im Literatur-Archiv Sulzbach-Rosenberg, von Juni bis August 2006 im Fallada-Haus in Carwitz und ab September 2006 im Koeppen-Haus in Greifswald zu sehen sein wird. Auf 14 großformatigen Text-Bild-Tafeln, auf 7 Textfahnen und in Herausgeber- und Autorenporträts sowie vielen Originaltexten wird die Themenvielfalt dieses wichtigsten Publikationsorgans der deutschen "Linken" dokumentiert. Als Hiller-Interessierter freut man sich, daß Kurt Hiller umfangreich zu Wort kommt. Es ist also nicht nur sein Porträt auf der Tafel der wichtigen "Weltbühne"-Autoren zu sehen, er wird nicht nur auf dem Faltblatt zur Ausstellung neben Ernst Toller, Walter Hasenclever und Axel Eggebrecht abgebildet, sondern Hiller-Texte sind auch auf einer ganzen Reihe von Tafeln nachzulesen. Damit wird Kurt Hiller erneut als einer der führenden Publizisten der "Weltbühne" vorgestellt, und nun bleibt nur noch zu hoffen, daß im Ergebnis dieser Ausstellung ein repräsentativer Text-Bildband entsteht, der die sehr tendenziöse DDR-Würdigung der "Weltbühne" aus dem Jahre 1983, die immer wieder nachgedruckt wird (warum eigentlich?), endlich ablöst. Es wird zum Schluß auf die Neugründung der "Weltbühne" nach 1945 in der DDR eingegangen. Zum Glück wird auf der entsprechenden Tafel Kurt Hillers Urteil aus dem Jahre 1962 "Eine einzige permanente Leichenschändung an Carl von Ossietzky, mit dessen Namen sie prunkt" wiedergegeben, sonst könnte der Besucher wirklich glauben, daß in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR diese Zeitschrift ein Blatt für Zwischen-den-Zeilen-Leser gewesen sein soll. Ich möchte das nicht bestätigen!
Till Böttger

Ausstellung "Die Kinder der Manns" in München ohne Hiller-Bezug

Die oben genannte Ausstellung wird im Literaturhaus München vom 8.12.05 bis 26.2.06 gezeigt. Allerdings sind dort nicht - wie ursprünglich angedacht - erstmals die Briefe Klaus Manns an Kurt Hiller zu sehen, die die Monacensia, die Handschriftenabteilung der Münchener Stadtbibliothek, im Jahre 2004 erworben hat. Auch das im Rowohlt-Verlag erschienene Begleitbuch zur Ausstellung erwähnt Hiller nicht.

Homophilen-Ausstellung in Hamburg ausgefallen

Die für dieses Jahr geplante Ausstellung "Von Klappen und Nestern" im Museum für Hamburgische Geschichte ist aus finanziellen Gründen ausgefallen. Wir hatten den Ausstellungsmachern ein Hiller-Foto zur Verfügung gestellt. Der organisierende Verein "Freundschaften e.V." wird seine Forschungen zur schwulen Geschichte in Hamburg evtl. in einem Buch veröffentlichen können; derzeit gibt es kleinere Projekte wie Vorträge, Filmvorführungen und Beteiligung an den Hamburger "Stolperstein"-Aktionen.

Große Hiller-Ausstellung in der Universitätsbibliothek Hamburg

Die Universitätsbibliothek Carl-von-Ossietzky in Hamburg gab uns die Zusage, im Jahr 2010 im großen Ausstellungssaal der Bibliothek eine Hiller-Ausstellung präsentieren zu dürfen. Anlaß wird dann der 125. Geburtstag Hillers sein. In diesem Saal fand auch 1965 die Ausstellung zu Hillers 80. Geburtstag statt. Schwerpunkt der Ausstellung werden sicherlich die bislang noch am wenigsten erforschten Hamburger Jahre Hillers von 1955-1972 sein.

Hiller-Lesung im Internet

Der 30.Januar 1933 gilt als Tag des Machtantritts Adolf Hitlers. Die Homophilen-Vereinigung etuxx e.V. plant für Januar 2006 AntiFascho-Texte auf ihrer Homepage www.etuxx.com zu veröffentlichen. Kurt Hillers Lesung aus seinen KZ-Erinnerungen (auf der CD im Buch "Zu allererst ANTIKONSERVATIV") sollen dabei im Internet hörbar gemacht werden.

Kurt Hiller in Kalender 2007

Die Domäne Dahlem im Südwesten Berlins ist ein agrarhistorisches Freilichtmuseum mit Bio-Landwirtschaft. Sie beherbergt ein Freigelände mit Gemüse- und Blumengärten, Getreidefeldern, vielen Tieren, Hofladen, einem Museum zur Landwirtschafts- und Ernährungsgeschichte Berlins, und sie veranstaltet ökologische Workshops, Kinderprogramme und vieles mehr.
Der Domäne verbunden ist eine Projektagentur, die auch kulturelle Berliner Forschung betreibt. Eines der Projekte lautet "Berühmte Leute in Schöneberg/Friedenau". Zu diesem Thema ist für 2007 ein Kalender geplant (muß also zeitig nächstes Jahr erscheinen), der auch Kurt Hiller (mit Text und Foto?) als Einwohner von Friedenau (1917-1934) vorstellen möchte.

Kurzinfos aus dem Nachrichtenbrief Nr. 12 der Hiller-Gesellschaft

Es war Rudolf Hess !

Aus dem Hiller-Nachlaß gibt es von einem Fund zu berichten. Wie Hiller-Kennern bekannt äußert er in seiner Autobiographie Logos, S. 287, den Verdacht, daß er seine Freilassung aus den KZs 1934 Rudolf Hess verdanke. Man mag dies als wichtigtuerische Verstiegenheit Hillers eingeschätzt haben, aber die Wahrheit dieser Vermutung hat sich jetzt herausgestellt.
Der Freund, der Hiller den Namen des Verantwortlichen für die Freilassung nicht nennen durfte, war Leo Matthias. Gelüftet aber wurde das Geheimnis von Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, dem Gründer der Paneuropa-Bewegung und ersten Trägers des Karls-Preises der Stadt Aachen.
Coudenhove-Kalergi hatte Hillers Autobiographie gelesen und schrieb ihm am 17. März 1970 einen Brief, worin er den General Haushofer als seinen Freund vorstellt. Haushofer hatte nach dem Hitlerputsch 1923 Rudolf Hess bei sich zuhause 4 Wochen lang vor der Polizei versteckt, und dieser bewahrte ihm dafür lebenslange Dankbarkeit. Als Coudenhove-Kalergi von Hillers Verhaftung erfahren hatte, wandte er sich an Haushofer, und dieser sich an Hess mit der Bitte um Freilassung Hillers. Ebenfalls könnte Leo Matthias bei Hess zugunsten Hillers interveniert haben.
Schon vor der Lüftung dieses Geheimnisses hatte Hiller sich für die Freilassung von Rudolf Hess aus dem Spandauer Gefängnis ausgesprochen, da zu Zeiten der schlimmsten Verbrechen Hitlers Hess bereits in englischer Kriegsgefangenschaft gewesen war.

NDR-Feature über Kurt Hiller

Der Kulturwissenschaftler Timon Kuff produziert für den Norddeutschen Rundfunk ein einstündiges Feature über Kurt Hiller. Für diese Radiosendung, die voraussichtlich im November vom Sender NDR Kultur ausgestrahlt wird, interviewte er Wolfgang Beutin (als persönlichen Freund Hillers) und Harald Lützenkirchen (als Forscher) und erarbeitete sich die nötigen Kenntnisse, um interessante Geschehnisse aus Hillers Leben in der Sendung zu präsentieren. Aus früheren Radiosendungen mit Kurt Hiller wird auch seine Originalstimme zu hören sein. Die Sendung heißt "Große Stimmen" und läuft Dienstags zwischen 21 und 22 Uhr.

Ausstellung von Briefen Klaus Manns an Hiller

Die aus Anlaß der 100. Geburtstage von Erika und Klaus Mann von der Monacensia mitgestaltete Ausstellung "Die Kinder der Manns" wird erst im November im Literaturhaus München eröffnet werden. Im nächsten Jahr wird die Ausstellung auch in Lübeck und Zürich zu sehen sein. Auf dieser Ausstellung werden einige der 70 Jahre lang unter Verschluß gewesenen Briefe Klaus Manns an Kurt Hiller erstmals zu sehen sein.

CD Rom der Literarischen Gesellschaften

Die "Digitale Bibliothek" ist ein Projekt, bei dem geisteswissenschaftliche Texte elektronisch erfaßt und mittels CD Rom publiziert werden. Die Arbeitsgemeinschaft literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten plant, eine solche CD Rom über die ihr angeschlossenen Gesellschaften zu veröffentlichen. Die Kurt Hiller Gesellschaft wird darauf vertreten sein, mit einem Text zur Gesellschaft, der Biographie Hillers, mit einem Foto und einem Original-Textauszug.

glbtq

Diese Abkürzung steht für: gay, lesbian, bisexual, transgender & queer culture, also alle "besonderen" sexuellen Spielarten. Auf deren Homepage im Internet kann man eine kurze Biographie Hillers nachlesen, die auf dessen sexualpolitische Engagements den Schwerpunkt legt. Der Text stammt von Hubert Kennedy, der vor einigen Jahren ein Buch über die Zeitschrift "Der Kreis" veröffentlicht hat, an der Hiller über Jahrzehnte mit homoerotischen Gedichten und Essays mitgewirkt hat. Der Text ist auf englisch. www.glbtq.com/social-sciences/hiller_k.html

Doitsu Bungaku

ist japanisch und heißt "Deutsche Literatur". Es ist der Name der Zeitschrift der japanischen Gesellschaft für Germanistik.
Unser Mitglied Akane Nishioka, fleißig zwischen Marbach, Berlin und anderen Archivorten pendelnd und forschend, veröffentlichte im aktuellen Heft einen Beitrag über das Neopathetische Cabaret. Ihr Augenmerk liegt dabei auf dem Ansinnen Hillers und Loewensons, mit der Form eines Cabarets die Kunst auf das alltägliche Leben einwirken zu lassen und somit eine Entgrenzung zwischen Kunst und Leben zu erreichen. Akane Nishioka stellt die avantgardistischen Denkansätze der Neopathetiker vor und untersucht im Detail einige der vorgetragenen Werke inklusive der Art, wie sie vorgetragen wurden. Sie kommt zu dem Schluß, daß dieses Cabaret-Projekt "das Terrain der Kunst ins Alltägliche hin zu erweitern vermochte, aber - sofern und weil es ‚Kunst' sein sollte - letztlich doch die zu überschreitende Grenze zwischen Kunst und Leben bekräftigte."
Dieser lesenswerte Artikel ist Teil ihres Post-Dissertations-Projekts.

Akane Nishioka: Wirklich eine Entgrenzung zwischen Kunst und Leben? Neopathetisches Cabaret und die historischen Avantgardebewegungen. In: Neue Beiträge zur Germanistik (Internationale Ausgabe von Doitsu Bungaku), Bd.3, H.5, 2004, S. 135-148.

europäische ideen

Diese seit über dreißig Jahren von A.W. Mytze herausgegebene Zeitschrift enthält im neuesten Heft wieder einen Beitrag aus der Feder von Klaus Täubert. Es handelt sich um eine sehr komprimierte Zusammenfassung seines Artikels über Hillers Mitarbeit an der Prager "Neuen Weltbühne" unter der Schriftleitung von Hermann Budzislawski. Bereits in dieser Zusammenfassung kann man lesen, daß Budzislawski sich vehement gegen den Verdacht verwahrte, die "Neue Weltbühne" werde von Kommunisten kontrolliert. Unabhängig davon stellte Hiller mit großer Enttäuschung fest, daß Budzislawski "offenbar kein Empfinden dafür [habe], welche Beleidigung, ja Erniedrigung Sie mir zufügen, indem Sie mir untersagen, fortzusetzen was ich früher tat, nämlich meine Anschauungen in der Weltbühne vor den Lesern zu entwickeln." Die Weltbühnen-Forscher, die auf Täuberts ausführliche Untersuchung warten, können schon einmal mit diesem Artikel Vorlieb nehmen.

Klaus Täubert: Hiller und Budzislawski im Prager Exil. In: europäische ideen, H. 131, 2005, S.36/37.

Festschrift-Beitrag über Kurt Hiller

Prof. Dr. Wilhelm Nölling war in den 70er-Jahren u.a. Wirtschaftssenator in Hamburg, später Chef der Hamburgischen Landeszentralbank. Anno 1960 war er im Vorstand des Landesverbands Hamburg des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und lernte in dieser Funktion Kurt Hiller kennen. Nun schrieb er einen Artikel über Hiller, der im Herbst in einer Festschrift für den früheren MdB Uwe Jens erscheinen wird.
Wilhelm Nölling schreibt frei von der Leber weg, unkonventionell, bewußt subjektiv, über seine erhebenden Lektüreerlebnisse mit Büchern Hillers. Er gibt Leseempfehlungen (vor allem: Geistige Grundlagen...), zeigt Verständnis für Hillers Heidegger-Kritik und verwirft dessen Eigenart, Schimpfen, Beleidigen, Verachten und Hassen als Ventil zur Verstärkung seiner Urteile einzusetzen.
Bei Erscheinen des nächsten Nachrichtenbriefs dürfte die Festschrift auf dem Markt sein, sodaß dann genaue bibliographische Angaben gemacht werden können.

Erhart Löhnberg

Der bedeutende Schwulen-Historiker Manfred Herzer hat in seiner Zeitschrift CAPRI wieder einen Artikel mit Bezug zu Kurt Hiller veröffentlicht. Unter Einbeziehung neu entdeckter Briefe aus dem Hillerschen Nachlaß schrieb er einen Artikel über Erhart Löhnberg, der bereits im alten Wissenschaftlich-humanitären Komitee in den Zwanziger Jahren aktiv gewesen war. Der Briefwechsel im Nachlaß geht bis 1961, als es zum Streit zwischen beiden kam, da Löhnberg bei Hillers Versuch einer Neugründung des WhK sich nicht engagieren wollte. Herzers Artikel gibt ein würdiges Bild dieses eher im Hintergrund bleiben wollenden Freundes Hillers.

Manfred Herzer: In memoriam Erhart Löhnberg. In: Capri. Zeitschrift für schwule Geschichte, No. 37, Mai 2005, S. 19-24.

Columbia-Haus

Das Columbia-Haus war das KZ nahe dem Flughafen Tempelhof, in dem Hiller zwischen Juli und Oktober 1933 die schwersten Folterungen erlebte. Erst jetzt bekamen wir ein Buch aus dem Jahr 1990 in die Hand, das die düstere Geschichte dieses KZs gründlich vorstellt. Die Autoren haben in Recherchen einige der Leidensgenossen Hillers (teils mit Foto) namhaft gemacht und die elenden Zustände in dieser Hafthölle rekonstruiert. Auf fast 20 Seiten des Buchs wird aus Hillers "Schutzhaft"-Memoiren in der "Neuen Weltbühne" 1934/35 zitiert. Heute gibt es nahe der Stelle des früheren KZ ein Mahnmal. Wer sich diese brutale Zeit Hillers vor seiner Flucht ins Exil vor Augen führen möchte, greife zu diesem Buch.

Kurt Schilde und Johannes Tuchel: Columbia-Haus. Berliner Konzentrationslager 1933-1936. Hrsg.v. Bezirksamt Tempelhof von Berlin. Edition Hentrich, Berlin 1990.