Auf Kurt Hillers Spuren in London

Aus dem Prager Exil mußte Hiller fliehen, als sich Ende 1938 die Besetzung des Landes durch Nazi-Deutschland abzeichnete. Er entschied sich für England als neuem Gastland und flog nach vielen Ausreise-Schwierigkeiten am 8. Dezember 1938 nach London.
In England entfaltete Hiller Aktivitäten wie die Gründung der kulturell orientierten "Gruppe Unabhängiger Deutscher Autoren" und des politisch orientierten "Freiheitsbundes Deutscher Sozialisten". Mit der Exil-SPD namens SOPADE und anderen sozialistischen Gruppen nahm er Fühlung auf, um eine Einheitsfront deutscher Sozialisten zu erreichen, die nach der Niederschlagung Hitlers die Macht im neuen Deutschland anstreben sollte.
In London lebte Hiller im nördlichen Stadtteil Hampstead, im nordwestlichen Stadtteil Kilburn und im südlichen Stadtteil Crystal Palace, sodaß er ständig mit Bus oder U-Bahn in die Stadt und zurück zu seinen Wohnungen fahren mußte.

Anläßlich einer günstigen Gelegenheit, erstmals nach London zu kommen, besuchte ich Archive und die Wohnungen Hillers, die er von 1938 bis zu seiner Remigration 1955 bewohnt hatte.
London, 2012 Ausrichter der Olympischen Sommerspiele, scheint für dieses Ereignis nicht gerüstet zu sein. Die Stadt wirkt laut, chaotisch, wahnsinnig überteuert, und es steht zu befürchten, daß die Verhältnisse sich bis 2012 eher noch verschlimmern. Bei näherer Sicht erweisen sich die vielen Busse und Haltestellen als Verkehrshemmnis, und die Anbindung an die U-Bahn ist dilettantisch. Es kostete viel Zeit, die verschiedenen Hiller-relevanten Orte aufzusuchen.




Stadtteil Hampstead, bei Kenneth Dean, Flat 7, 53 Fitzjohns Avenue, NW3
Hampstead macht den Eindruck eines netten kleinen Stadtteils, der auf einem Hügel liegt, von dem aus man an einigen Stellen schön auf die Londoner Innenstadt blicken kann. Kenneth Dean war Musiker und plante, ein Buch über Homosexualität zu schreiben. In diesem Zusammenhang nahm er 1934 Kontakt mit Hiller auf. In den ersten 3 Wochen in London lebte Hiller bei ihm. Übrigens war er damit fast Nachbar von Sigmund Freud, der bis zu seinem Tod im September 1939 in einer Parallelstraße wohnte.

Stadtteil Crystal Palace, Cintra House Hotel, 18, Anerley Hill, SE 19
Im Januar/Februar 1939 lebte Hiller in diesem Haus, zusammen mit seinem ebenfalls aus Prag geflüchteten Freund Walter Detlef Schultz. Im "Logos" schreibt er: "Kein geringer Teil der Londoner Bevölkerung machte sich ein Vergnügen daraus, den deutschen, aber doch antihitlerdeutschen Flüchtlingen für eine Reihe von Wochen, manchmal Monaten, Logis und Kost ohne Entgelt zu gewähren. Der Besitzer einer kleinen und feinen Pension in der Nähe des Crystal Palace, Mr. J. G. Eminton, lud uns beide ein, seine Gäste zu sein".
Heute ist dieses Haus (der hohe Bau ohne Seitenfenster) keine Pension mehr. Man blickt vom Haus aus direkt gegenüber auf das Fußballstadion von "Crystal Palace London".

Stadtteil Kilburn / Cricklewood, 126 Fordwych Road, NW2
Ein Stadtteil, der fast nur aus Wohnhäusern besteht. Hier lebte Hiller von März bis September 1939.

Stadtteil Kilburn, bei Mrs. Litten, 7 St. Lawrence Mansions, Priory Park Road, NW6
Mit "Mrs. Litten" ist Irmgard Litten gemeint, Autorin des Buches "A Mother fights Hitler", Mutter des von den Nazis in Dachau ermordeten Rechtsanwalts Hans Litten. Das nachfolgende Foto zeigt das Haus Nr. 10 in der Straße. Das Haus Nr. 7 gegenüber ist abgerissen; dort wird gerade neu gebaut. Es ist zu vermuten, daß Haus Nr. 7 ähnlich wie dieses Haus Nr. 10 aussah. Hier wohnte Hiller von September 1939 bis Juni 1940.

Onchan Internment Camp, House 30, Isle of Man, Irische See
Im "Logos" ist nachzulesen, warum im Juni 1940, nach der deutschen Eroberung von Paris, selbst eindeutige deutsche Antinazis interniert wurden. Hiller wurde bis Februar 1941 in ein Internierungslager auf der Isle of Man in der Irischen See verbannt, bis dieser absurde Schritt rückgängig gemacht wurde.

Stadtteil Hampstead / Golders Green, 25 Woodstock Avenue, NW11
Golders Green nördlich von Hampstead ist ein heute jüdisch geprägter Stadtteil mit vielen jüdischen Geschäften, Hotels, Restaurants. Eines heißt ungelogen "Kosher Fried Chicken". Auf den Straßen des Stadtteils sieht man sehr viele Juden, die an ihrer traditionellen Kleidung zu erkennen sind. Ob dies damals auch schon ein jüdisches Viertel war, entzieht sich meiner Kenntnis. Von Februar 1941 bis zum Herbst wohnte Hiller u.a. in einem eingeschossigen, heute fast verfallen wirkenden Haus.

Stadtteil Hampstead / Golders Green, bei Koffler, 29 Russell Gardens, NW11
Im gleichen Zeitraum wohnte Hiller ein paar Straßen weiter, bei seinem Freund Dosio Koffler, dem Autor der "Deutschen Walpurgisnacht". Sowohl vom März 1941 als auch vom August 1941 gibt es Hiller-Briefe, die jeweils die eine oder die andere Adresse tragen. Nur durch intensive Lektüre von Briefen aus dieser Zeit ist dieser Wohnungs-Sachverhalt zu klären.

Stadtteil Hampstead / Golders Green, 48 Woodstock Avenue, NW11
Dies war die Hauptadresse Hillers in seinem Londoner Exiljahren, denn hier lebte er von Herbst 1941 bis zu seiner Remigration August 1955.

Die Suche nach Hiller-Archivalien in London fiel spärlich aus.
Im bereits erwähnten Wohnhaus Sigmund Freuds in den Maresfield Gardens, heute Museum, zeigte mir der Leiter, Michael Molnar, die berühmte Couch Freuds. Von 4 Briefen Hillers an S. Freud und einen an Anna Freud erhielt ich Kopien. Auf der anderen Seite konnten wir dem Museum einige Kopien von handgeschriebenen Briefen Anna Freuds an KH übergeben. Die Briefe Sigmund Freuds an KH fehlen heute im Nachlaß. Das Freud-Museum in Wien und die Library of Congress in Washington sind noch auf Briefe Hillers an Freud zu überprüfen, ebenso wie die Wellcome Archives in London. Ferner gab es einen Briefwechsel Hillers mit dem Freud Archive (Kurt R. Eissler) in den USA, die ein Interview mit Hiller aufgenommen hatten.

Die British Library, ein Neubau am Bahnhof Euston Station, fällt zunächst einmal durch ihre Bürokratie auf. In einem ersten Schritt muß man sich an einem Computer mittels digitalem Formular voranmelden. Dann kommt die eigentliche Anmeldung, wo man kostenlos ein Foto von sich auf einem Bibliotheksausweis erhält. Und schließlich darf man dem Hobby der Briten frönen, dem Schlangestehen, an der Garderobe.
Ein Dutzend Bücher Hillers besitzt die British Library immerhin. Im Manuskriptsaal konnten trotz freundlicher Hilfe eines Archivars keinerlei Manuskripte oder Briefe Hillers entdeckt werden. Selbst in dicken Büchern über die Bestände aller britischen Archive fanden sich nur äußerst spärliche Hinweise auf Kurt Hiller. Die Kontakte mit Behörden und Einzelpersonen während seiner 16 Jahre in London müssen wohl mühsam im Detail recherchiert werden.
Der Wahlspruch der British Library "The world's knowledge" scheint mir nach meinen Erfahrungen recht überheblich zu sein.

Das Institute of Germanic and Romance Studies am Russell Square nahe dem British Museum war geschlossen. Hiller-relevante Archivalien dürfte es nicht besitzen.

Die Wiener Library ist ein Archiv des Buchsammlers Alfred Wiener, heute am Regent's Park gelegen. Da es im Hiller-Nachlaß rund 30 Briefe des Archivs (meist von Alfred Wiener persönlich) an KH gibt, müßte es auch ungefähr ebenso viele Briefe KHs an Wiener geben. Doch man ist dort noch nicht soweit;derzeit registriert man die Korrespondenzen der 30er Jahre und es wird noch ein paar Jahre dauern, bis die Korrespondenzen der 50er Jahre erfaßt und zugänglich sind.

Das im gleichen Haus befindliche Londoner Leo-Baeck-Institut hatte geschlossen wegen eines jüdischen Feiertags. Hier dürfte wohl nichts zu finden sein; das New Yorker Institut gleichen Namens hat auch nur die Briefe KHs an Kurt Kersten.

Fazit: Es gibt keinen Grund, ohne konkrete Absicht England nochmals zu besichtigen. Auf Spurensuche zu Kurt Hiller fehlt nun noch Prag.

Harald Lützenkirchen