Auszüge aus dem Buch: Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft Band 3

Ruprecht Großmann: "... er bringt mit ergötzlichem Temperament Phrasen auf seiten seiner Gegner zur Strecke ...". Kurt Hiller als Vordenker und Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechts (S. 11-46)

Ewigkeitswert hat Hillers lebenslanger und letztlich erfolgreicher Kampf um die Befreiung der Homosexualität von der Strafbarkeit und damit zugleich um ihre gesellschaftliche Achtung und Anerkennung. Hier, in seinem ersten wissenschaftlichen Statement zum Problem, hat er bereits die wesentlichen Argumente gegen die Strafwürdigkeit zusammengetragen.

Vergleichbar dem informationellen Selbstbestimmungsrecht gibt es auch ein existenzielles Selbstbestimmungsrecht und ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht des Menschen, die sich beide aus Art. 2 GG i.V.m. Art.1 Abs.1 GG ergeben und damit einen Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bilden. Und wer als Erster die Vorarbeiten für diese Rechtskonstruktion geleistet hat, dürfte nach allem auf der Hand liegen: Kurt Hiller mit der Studie "Das Recht über sich selbst"! Er stellte 1908 diese These auf und belegte sie an neun Straftatbeständen des StGB von 1871. Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, daß Karl Kraus formal stärker literarisch, aber durchaus mit juristischem Inhalt, zur gleichen Zeit die freie Selbstbestimmung propagierte.

Im Vergleich zu Hillers wissenschaftlicher Arbeit vor 100 Jahren stellt sich das vor 50 Jahren ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10.5.1957 als Rückfall in die frühere Strafrechtsgeschichte, Hillers Schrift "Das Recht über sich selbst" dagegen als Fanfare in die Zukunft der Strafrechtsreform dar.

Nun ging alles sehr schnell. Das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969 beschränkte die Strafbarkeit in § 175 auf die qualifizierten Tatbestände, also auf Fälle, in denen der Partner unter 21 Jahre alt ist oder in einem Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis steht sowie auf gewerbsmäßige Unzucht, ferner in § 176 auf Fälle der Androhung oder Anwendung von Gewalt. Die Neufassung des StGB vom 2.1.1975 nahm insofern eine weitere Strafbarkeitseinschränkung bei § 175 vor, als die Altersgrenze des Partners auf 18 Jahre herabgesetzt wurde. Mit dem 29. StrÄndG vom 31.5. 1994 wurde § 175 ganz gestrichen und die Jugendliche betreffenden Sonderregelungen in § 182 (Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen) eingeordnet. Diese Systematik wurde mit der Neufassung des StGB vom 13.11. 1998 und dem Gesetz zur Änderung der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (!) vom 27.12.2003 fortgesetzt. Die Homosexualität oder Gleichgeschlechtlichkeit als begrifflicher Sondertatbestand wird im Gesetz nicht mehr erwähnt. Unter der Überschrift "Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" regeln heute zahlreiche Einzelbestimmungen die Strafbarkeit des sexuellen Mißbrauchs von Kindern (§§ 176, 176a und b), Jugendlichen (§ 182), Minderjährigen (§ 180), Schutzbefohlenen (§§ 174, 174a - c), Widerstandsunfähigen (§ 179) und Gewaltopfern (§§ 177, 178). Diese auf den ersten Blick als übermäßig erscheinende Gesetzesflut ist sachlich einleuchtend und in dreifacher Hinsicht eine Bestätigung der Konzeption Hillers. Erstens wird die Homosexualität nicht mehr als eine zur Ausstoßung führende Abart, sondern - auch im Einklang mit der Auffassung Hirschfelds - als eine normale Variante einer umfassend verstandenen Sexualität qualifiziert. Zweitens wird das von Hiller kreierte sexuelle Selbstbestimmungsrecht das grundlegende Prinzip des Sexualstrafrechts. Und drittens wird der von ihm und Karl Kraus sorgfältig erstellte Katalog der schutzwürdigen Rechtsgüter gewährleistet. Es darf wohl behauptet werden, daß diese Entwicklung bei Kurt Hiller Genugtuung und Freude ausgelöst hätte.

Wolfgang Beutin: "Sittlichkeit und Kriminalität" (1908), eine Schrift von Karl Kraus als österreichischer Beitrag zur Sexualreformbewegung (S. 48-74)

Für das, was in der "christlichen Nacht" an sexuellen Vorkommnissen abgelehnt, gelästert, verleumdet, tabuiert, verboten, verfolgt wurde, liefert Kraus eine beträchtliche Reihe Beispiele. Einige davon sind:
Der außereheliche Geschlechtsverkehr. "Mit feinem Takt sehen wir jene richterliche Naivität angenehm gepaart, die jedesmal in grenzenloses Staunen gerät, so oft die Fabelkunde in den Gerichtssaal dringt, daß es in der weiten Welt so etwas wie außerehelichen Geschlechtsverkehr gebe." (SK 27)
Die Variationen der Liebe (Abirrungen, Deviationen, Perversionen): Kraus wendete sich energisch gegen Krafft-Ebings Verurteilung der Variationen der Liebe (in seiner "Psychopathia Sexualis, 1893), mit folgender Argumentation: "Sind wir noch immer nicht über den geistigen Horizont eines Krafft-Ebing hinaus, der sich über die Resultate seiner wissenschaftlichen Forschung sittlich entrüstet? Der Phantasie für krankhaft und Krankhaftigkeit für ein Laster hält? Er spricht von einer Ausgeburt höllischer Phantasie, wenn der sinnliche Strom einmal wo anders mündet, als es in den Normalien vorgezeichnet ist, wenn zwei Menschen das tun, was die Asexualität, die über die bloße Andeutung der Gefühle nicht hinauskommt und sich darum fast stets prostituiert, als ‚Perversität' verfemt, was aber gesunde Unbewußtheit seit Erschaffung der Welt als selbstverständlichen Ausdruck der Leidenschaft betätigt. In der Liebe gibt es nichts Anstößiges, solange der unbeteiligte Moralrichter nicht seine Nase hineinsteckt und die Nachtwandler zur Besinnung ruft." (SK 121)
Und: "… die Verfolgung geschlechtlicher Abarten" fördert die Chantage, und "so löst auch jeder andere Versuch, das Privatleben mit einem Paragraphenzaun zu umhegen, neue Unmoral, neue Strafwürdigkeiten aus." (SK 16)
In der folgenden Passage erweist Kraus sich als genuiner Schüler Freuds: "Alles, was sich neben der Liebe begibt, fließt, ihn zu verstärken, in den Hauptstrom der Sexualität." So sei es denn der "volle Mann, dem die Möglichkeiten der doppelgeschlechtlichen Naturanlage nie versperrt sind und der die Lust am Weibe nicht nur beweist, sondern vermehrt, wenn er die Lust am Manne versucht …" (SK 238; hier stützt sich Kraus auf das Theorem der Bisexualität, wie es auch in der Psychoanalyse zugrunde gelegt wird.)
Die Abtreibung: Kraus prangerte "das Verbot der Fruchtabtreibung" als "das größte Verbrechen" an, "das ein Strafgesetz … begeht": "Es ist nicht anzunehmen, daß die in Paragraphenwaffen starrende Niedertracht, die den innersten Besitz an menschlicher Freiheit bedroht und den Uterus zu Abgaben zwingt, sich mit einem Mal eines Bessern besinnen, daß die staatliche Schamhaftigkeit, die den Geschlechtsverkehr lediglich für eine lästige Formalität bei der Fortpflanzung ansieht und unter allen Lebewesen bloß den Störchen eine gewisse Freizügigkeit gewährt, sich plötzlich ihrer selbst schämen werde. Aber der Nachweis, daß das Verbot der Fruchtabtreibung das größte Verbrechen ist, das ein Strafgesetz … begeht, dient doch wenigstens der Aufrüttelung jener Gehirne, die immer in der besten aller Welten leben. Die Dummheit sitzt freilich so tief, daß sie solchem Weckruf mit dem Einwand begegnet: wenn die Fruchtabtreibung gestattet würde, fiele die letzte Hemmung, die sich die weibliche Keuschheit heute noch auferlege. Daß doch die Keuschheit überhaupt die Neigung hat, die Keuschheit aufzugeben! Und daß es eines Strafgesetzes bedarf, sie davon zurückzuhalten!" (SK 222)
Prostitution. - Kraus widersetzte sich der zu seiner Zeit üblichen Schmähung und Verachtung der Prostitution mit größter Verve. Ob nun die Verfemung von Männern in Talar oder Männern ohne oder von Frauen ausging. Hasserinnen der Prostituierten kennzeichnete er: "Unbefriedigte Weiber, denen Hysterie längst die Traube ihres Geschlechts sauer gemacht hat, entrüsten sich über die Lebenshaltung der Prostituierten. Weg mit den Tugendmegären, bei denen sich verhinderte sexuelle Notwendigkeiten in Sozialpolitik umgesetzt haben!" Seinerseits trug er vor allem ein sozialpolitisches Argument vor: daß die Arbeitsbedingungen, die den Frauen in den Werkhallen der Industrie zugemutet wurden, vielfach bedeutend schlechtere waren als die der Prostituierten: "Denn grauenerregend und weit grauenerregender als die entgeltliche Hingabe des weiblichen Körpers an mehrere Männer ist seine schlecht bezahlte Hingabe an den Dienst in einer Zündhölzchenfabrik." (SK 202)
Nicht zuletzt den Staat seiner Epoche befehdete er wegen dessen zwiespältigen Umgangs mit der Prostitution, in direkter Anrede: "O du alter nichtsnutziger Lümmel, du ausgeschämter Hallodri du, heiliger Saufaus und ehrbarer Wüstling, du nimmst den Töchtern der Wollust die sauer erworbenen Groschen, hebst den Zins von allen Schanden ein, und gehst hin und verklagst die überhand nehmende Unsittlichkeit!" (ChM 7)
Abermals den von ihm so oft verspotteten Staatsanwalt aufs Korn nehmend, stellte er die doppelte Frage: "Verstünde er es, wenn ihm ins Hirn gebrannt würde, daß das Hurentum das letzte Heroentum einer bankrotten Kultur bedeutet? Oder es ist bloß eine soziale Notwendigkeit, und Hunderttausende opfern sich einem Beruf, der Achtung verdient wie ein anderer und dessen Verächter sich hüten sollten, Vergleiche mit Wert und Nutzen ihres eignen Berufes zu provozieren." (ChM 11)
Nun auf die Staatsanwälte und Richter zugleich bezogen: "Sie werden es ja doch nie einsehen, daß die Prostitution die Menschheit mehr freut als die Jurisdiktion, daß die Existenz der letzten ‚Schanddirne' kulturvoller und sauberer ist als die eines Staatsanwalts, der sich nicht scheut, das hundertjährige Pöbelwort in einen Mund zu nehmen, den er vielleicht soeben vom Kuß einer Schanddirne abgewischt hat. Sie brauchte nur zu winken, und er kam, sie brauchte nur das Zauberwort zu sprechen: ‚Gehst her, elender Sklave!', und er nannte sie seine Herrin. Sie dient einer Naturnotwendigkeit, die unverwüstlich ist und keiner Verbesserung fähig; er aber prostituiert sich einer miserablen Gesetzlichkeit, die er nicht fühlt und die er doch erfüllen muß, weil er von ihr lebt." (ChM 16)
Wie schon der österreichische Dramatiker Ludwig Anzengruber es in seinem Drama "Das vierte Gebot" dargestellt hatte, worin zum Schluß beide, die Dirne wie die Ehefrau, erkennen müssen, daß sie in der Gesellschaft ihrer Zeit nur "Verkaufte" sind, sieht Kraus auch in der (üblichen) bürgerlichen Ehe eine - krassere? - Form der Prostitution: "Daß die so versorgten Jungfrauen nicht samt und sonders am Hochzeitstag ins Wasser gehen, zeugt für die gesunde Prostitutionsfähigkeit ihres Geschlechts, der keine Familienerziehung etwas anhaben kann." (ChM 15)
Kuppelei: Was hatte der Vater Veith getan? Einerseits das Gewerbe seiner Tochter toleriert, auf der anderen Seite toleriert, daß Mizzi mit ihren Einnahmen ihn, den Vater, unterstützte. "Er hat also eine strafgesetzlich erlaubte Handlung, die Prostitution seiner Tochter, geduldet und eine ethische Handlung, die Unterstützung des Vaters durch das Kind, gefördert." Die Justiz nannte das Kuppelei. Kraus definierte daher satirisch: "Der Konnex einer erlaubten und einer sittlich gebotenen Handlung bildet das Verbrechen der Kuppelei." (ChM 15) "Und wer außer jenen Tröpfen, die sich den Geschlechtsverkehr bloß auf ethischer Grundlage und nicht auf einem Divan vorstellen können, leugnet, daß auch die Kuppelei einem in der Weibsnatur vorrätigen Trieb entspreche? Als Fortsetzung der Prostitution ist sie zunächst ein psychischer, und dann erst ein sozialer Zustand. Wie sollte sie aber, solange sie bloß den für den Geschlechtsverkehr nun einmal unentbehrlichen Ort der Handlung beistellt, ein crimen sein?" (SK 184)

Harald Lützenkirchen: Ein Leben lang im Recht. Kurt Hillers juristisches Wirken (S. 76-89)

Ab 1908 arbeitete Hiller im sexualwissenschaftlichen Institut Magnus Hirschfelds mit, wobei er in dessen Wissenschaftlich-humanitärem Komitee zeitweilig Zweiter Vorsitzender war. Hiller erarbeitete Petitionen zugunsten eines liberalen Sexualstrafrechts, befragte vor Wahlen die Parteien zu ihrer Haltung zu einem liberalen Sexualstrafrecht, schrieb als Jurist gutachtliche Erklärungen, um in Prozessen Menschen zu helfen, denen in Anklagen wegen Verstoßes gegen den § 175 eine besonders illiberale Rechtsauslegung drohte.
Eine besonders konstruktive juristische Arbeit leistete Hiller, als Mitte der Zwanziger Jahre ein Entwurf zu einem neuen Sexualstrafrecht dem Reichstag vorlag, welcher in einigen Punkten das bisherige Recht noch verschärfen, illiberaler gestalten sollte. Das WhK tat sich mit anderen Organisationen zusammen, und unter Hillers redaktioneller Leitung verfaßte dieses Kartell einen Gegen-Entwurf zum amtlichen Entwurf, der Paragraph für Paragraph alternative Bestimmungen formulierte und begründete. Jedoch kam es in den turbulenten Zeiten gegen Ende der Weimarer Republik zu keiner Verabschiedung eines neuen Sexualstrafrechts.
Mit welch lächerlichen Bestimmungen der Regierungsvorlage es das Kartell mit seinem Gegen-Entwurf zu tun hatte, zeigen die folgenden Ausführungen Hillers zu einer geplanten Bestimmung betreffs des Alters homosexuell sich Betätigender: "Wir hatten, paritätisch für junge Mädchen und junge Männer, ein Schutzalter von sechzehn Jahren vorgeschlagen; die Regierungsvorlage hatte das Schutzalter für junge Männer auf achtzehn Jahre festgesetzt; der Reichstagsausschuß erhöhte es auf einundzwanzig Jahre! Freilich muß auch der ‚Verführer' einundzwanzig Jahre alt sein. Diese Normierung hat groteske Folgen. Ein Neunzehnjähriger darf danach mit einem Siebzehnjährigen eine erotische Freundschaft schließen; zwei Jahre lang dürfen sie, unbehindert vom Strafgesetz, so intim miteinander verkehren, wie es ihnen beliebt; dann aber, vom einundzwanzigsten Geburtstage des Älteren an, müssen sie, soll dieser nicht straffällig werden, sich der Askese hingeben; abermals zwei Jahre lang; denn sobald der Jüngere das einundzwanzigste Jahr erreicht hat, dürfen sie wieder. Ein Meisterstück unserer Gesetzgeber!"

Alexandra Gerstner: Der Philosoph als Gesetzgeber. Nietzsche-Rezeption im literarischen Aktivismus (S. 91-105)

Die zentrale Funktion der Philosophie Nietzsches im Aktivismus ist zunächst im Gedanken des Herrschaftsanspruchs des Künstlers, Literaten oder Philosophen zu sehen. Die Aktivisten übernahmen von Nietzsche und auch Platon das Ideal des gesetzgebenden Philosophen - es bleibt aber die Frage, ob sie tatsächlich die neuen Philosophen verkörperten, die Nietzsche heraufbeschworen hatte. Waren ihre Antibürgerlichkeit, ihr Dilettantismus und ihr Antigelehrtentum schon Ausweis der Freien Geister? Den Gedanken der Herrschaft wendeten die Aktivisten zur Pflicht des Intellektuellen, politische Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen. Das jedoch, was sie unter dem Geistigen verstanden und die ethischen Grundlagen ihrer Politik waren im Grunde gegen Nietzsche gerichtet. Insbesondere die Absolutsetzung der Vernunft als gesetzgebender Instanz und die Ableitung allgemeingültiger moralischer Werte waren nicht mit Nietzsches Denken zu vereinbaren. Nichtsdestotrotz verstanden sich die Aktivisten selbst sehr wohl als die neuen Philosophen, das heißt als Freie Geister. Der sozialistische Humanismus und der Kampf für eine gerechte Gesellschaftsordnung waren jedoch nur schwer mit Nietzsches These vom absoluten Wert des Lebens und der Tat in Einklang zu bringen - und diese unlösbaren Widersprüche mußten letztlich zu der politischen Wirkungslosigkeit des geistesaristokratischen Sozialismus führen. Der elitäre Antidemokratismus der Aktivisten führte viele von ihnen, wie auch zahlreiche andere Intellektuelle, zu einer ästhetischen Begeisterung für den italienischen Faschismus. Geschuldet war diese Annäherung den antibürgerlichen und geistesaristokratischen Impulsen, die der Aktivismus mit dem Faschismus teilte. Die humanitären und sozialen Ambitionen der Aktivisten scheiterten nicht zuletzt auch deshalb, weil ihre Verachtung der Masse und ihre Bewunderung für die "Faust- und Autoritätsmenschen" sie daran hinderten, angemessene Formen der politischen Partizipation zur Umsetzung ihrer Ziele zu finden.

Klaus Schuhmann: Vom "Bebuquin" zum "Taugenichts". Kurt Hiller als Literaturkritiker (S. 106-113)

Hiller erkennt in der ichdissoziierten Gestalt Bebuquins einen Leidenden, jenem Mann vergleichbar, den einige Jahre später Gottfried Benn unter dem Namen Rönne beim Erobern einer Stadt scheitern läßt. Dabei will Bebuquin "etwas ganz Eigenes werden, keine Kopie mehr sein, nicht unter den vielen vorhandnen Dingen, Stilen, Erkenntnissen, Möglichkeiten wählen müssen [...] Aber da er keinen End-Zweck sieht, muß er den einzelnen leugnen. So scheint ihm seine letzte Rettung eine anständige Langeweile zu sein; doch bald empfindet er es als moralisch inkonsequent, weiter zu leben [...] Er betet um Krankheit, damit der Schmerz den Geist paralysiere; er betet, da im Leben Wandlung (durch Verlust des Gedächtnisses) nicht erzielbar scheint, um den Tod [...] Er stirbt - ohne daß von Physiologischem, Krankheit oder Selbstmord die Rede wäre - an Skepsis, an (unpathetischer) Verzweiflung, an Leere."
Daß Kurt Hiller diese Zeitkrankheit gut versteht, hat gewiß auch damit zu tun, daß sie philosophischer Art ist und zudem bei Denkern "semitischer Herkunft" (Hiller fragt: "Ein semitischer Faust?") ihm gut bekannter Romanhelden wie Walder Nornepygge (bei Max Brod), bei Otto Weininger und Max Steiner ebenfalls zu diagnostizieren war; dies macht ihm dieses Buch sympathisch, wenngleich dann doch noch ein paar Einwände zu Papier gebracht werden. "Aber Einwände hin, Einwände her ...", hier ist ein Buch entstanden, nach dessen Lektüre der Kritiker "bedingungslos klatschen" kann.
Nicht so beim "Trottelbuch" von Franz Jung, der 1912 mit dieser Publikation debütierte und dem Kritiker nicht persönlich bekannt gewesen ist und an einer anderen Zeitkrankheit litt: dem Geschlechterkonflikt, wie ihn vor allem August Strindberg aufbrachte und ihm einige Expressionisten dabei folgten. Ein solcher Konflikt war in Hillers Lebensführung nicht vorgesehen. Bei Franz Jung stand nicht der von Zweifeln geplagte junge Intellektuelle im Zentrum, sondern ein von seinen sexuellen Trieben gesteuertes Paar, für das es kein Entkommen geben konnte.
Diesem Schlesier wurden zwei Generationsgefährten schon eher gerecht als der Kritiker aus der Reichshauptstadt: der Jugendfreund Max Herrmann-Neiße und Ernst Blass, der zu jenen Lyrikern zählte, deren Gedichte Hiller in den "Kondor" aufgenommen hatte. Der mußte nicht vor dem "Trottelbuch" wie Hiller "streiken". Blass fand die vier Novellen "unheimlich und menschlich", und er bescheinigte dem Verfasser die Fähigkeit, "das Durcheinander eines Daseins wahrzunehmen, in dem vor Schmerz keiner mehr aus den Augen sehen kann, alles zusammenstößt, kämpft, brüllt, hingerichtet wird, jeder wie wahnsinnig hinter seiner Sehnsucht herläuft und die Geschlechtlichkeit dunkel tobt."

Claude Foucart: Kurt Hiller und André Gide. Literatur und Politik in einer schwierigen Zeit (S. 114-126)

Aber man sollte einen Aspekt der Gideschen Analyse nicht vergessen, der Kurt Hiller in höchstem Maße interessieren sollte. Im Brief, den er Gide aus Prag am 22. September 1936 schickt, wirft er das Problem der Homosexualität in der UDSSR auf. Gide selbst war besorgt von der Haltung des sowjetischen Regimes in dieser Hinsicht. In einem Gespräch mit Pierre Naville, am 4. November 1936, kommt er, sagt uns die Kleine Dame, auf die "kleine Passage über die Homosexuellen aus dem Buch Gides, die er so diskret wie möglich gestaltet hat" , zurück. Es handelt sich wohl in der Tat um die Anspielung in Zurück aus Sowjetrußland auf die Rechtsgewohnheiten, die auf eine Rückkehr zu den "bürgerlichen Instinkten" hindeuten: "Was soll man jedoch, vom Standpunkt des Marxisten aus, über das schon ältere [Gesetz] gegen die Homosexuellen denken?" Nun also kommt Gide privat auf dieses Thema zurück und spricht von einem "schwachsinnigen, unzulässigen" Gesetz, zugleich hinzufügend, daß er die sowjetische Logik verstehe. Denn "in irgendeinem Punkt ein Opponent der Menge zu sein, schärft den kritischen Geist und führt dazu, ein Revolutionär, ein Ungehorsamer zu werden."
Und Kurt Hiller, im Brief an Gide aus Prag am 22. September 1936, legte ebenfalls den Finger auf das Problem der sowjetischen Gesetzgebung, was die Homosexuellen angeht, und er ruft zu Aktionen auf "zum Schutz der Kultur". Er greift unverzüglich Barbusse und Gorki an, die ihrerseits in Moskau ihre "vulgären Instinkte gegenüber der Homosexualität" enthüllten und so einer möglichen Änderung der geltenden Rechtsprechung schadeten. Hiller, der 1908 seine Doktorarbeit über "Das Recht über sich selbst" geschrieben hatte, in der er die Homosexualität nicht als Krankheit betrachtete, sondern als "eine Variante" der Sexualität, erinnert sich hier vor allem der Deklarationen, die auf dem Zweiten Kongreß für Sexualreform eingebracht worden waren, zugunsten "einer unterdrückten Varietät des Menschen", ein in Kopenhagen 1928 abgehaltener Kongreß. Bei dieser Gelegenheit erinnert er an das Einschreiten von Barbusse in der Zeitschrift Les Marges vom 15. März 1926. Barbusse gab hier eine Definition der Homosexualität, die Kurt Hiller nur verurteilen konnte: "Ich meine, diese Verkehrung eines natürlichen Instinkts ist, gleich vielen andern Perversionen, ein Merkmal des tiefen sozialen und sittlichen Verfalls eines bestimmten Teiles der gegenwärtigen Gesellschaft." Und Kurt Hiller appellierte an Gide, der als einziger in der Lage war, die sowjetischen Politiker zu beeinflussen. Am 13. November 1936 erschien Zurück aus Sowjetrußland, in dem Hiller ein Echo seiner moralischen Hauptsorge wiederfand.

Manfred Herzer: Kurt & Rolf (Der Kreis) (S. 128-158)

In seinem Brief vom 18. Juni 1937 erzählt Meier, vermutlich als Antwort auf Hillers Nachfragen, noch einmal detaillierter die Geschichte der "Schweizer Gruppe", und jetzt auch einiges aus ihrer Vorgeschichte:
"Vielleicht wissen Sie, dass wir in Zürich noch einen kleinen Homoeroten-Klub haben, in dem sich hin und wieder Menschen aus aller Welt treffen: verängstigte Deutsche, Österreicher, Tschechen, Franzosen, Amerikaner, Engländer. Das hört sich auf den ersten Anhieb ganz gross an. Sie dürfen sich aber nicht vorstellen, dass diese illustren Besucher an jedem Klub-Abend (je Mittwochs, Samstags und Sonntags) anzutreffen sind. Es gibt Abende, wo es ausserordentlich interessant und international her- und zu-geht und andere Abende sind wieder ebenso ausserordentlich langweilig. Das liegt in verschiedenen Dingen begründet. Vor allem steckt alles noch in den Anfängen, trotz der vier Jahre, während denen ich mich der Sache auch ein wenig annehme."

Seit 1942 erscheint die kleine Zeitschrift ohne eine lesbische Abteilung und besteht nur noch aus dem von Meier redigierten "Herrenteil". Im folgenden Jahr wird der Titel geändert: Menschenrecht heißt seit 1943 Der Kreis. Später nennt Meier einen Grund für die Namensänderung: Eines Morgens - vermutlich 1942 - wurden er und die Zeitschriftengründerin Anna Vock verhaftet, weil die Schweizer Polizei Menschenrecht für eine "kommunistisch getarnte Angelegenheit" hielt. Man ließ die beiden schnell wieder frei, weil die Abwegigkeit des Verdachts offensichtlich war. Aus Angst davor, noch einmal mit Kommunisten verwechselt zu werden, wählten Herr Meier und Frau Vock den "politisch weniger verfänglichen Namen" Der Kreis.

Am 26. März 1957 unternahm Hiller einen erfolgreichen Anlauf zur Wiederbelebung der alten Freundschaft mit Meier. Er schrieb an den lieben Rolf einen Brief [...] Hiller teilt mit, daß er inzwischen dauerhaft in Hamburg wohnt, und kommt dann gleich zur Sache:
"Meine Ansichten über die Bewegung sind in jeder Hinsicht die geblieben, die Du kennst. Dazu gehört also auch: daß die Leistung, die in sovielen Jahrgängen des KREIS steckt, sehr hohe Achtung verdient, daß aber die Nichtgewilltheit des Herausgebers, seine Zeitschrift zu einem Kampforgan für Deutschland und Österreich zu machen, bedauerlich bleibt."

Hans-Günter Klein: "Um solcher Stunden willen lebe ich". Kurt Hillers erotisch getönte Freundschaften und seine "heilige Reihe". Aus den Briefen an Rolf Walther Hirschberg (S. 160-172)

Auffällig ist, daß sich in Hillers Briefen aus den Jahren nach 1948 so starke, emotional geprägte Äußerungen wie aus den Jahren davor nicht mehr finden. Fast schon nüchtern "protokolliert" er in seinem Brief zu Hirschbergs Geburtstag 1955: "Im Sommer 1905 aber verhexte mich das 16jährige junge Genie, in seiner azuren-ionischen Juniblüte; die archipelagische Gottheit. Ich erlebte durch Deine junge Herrlichkeit das Höchste, was überhaupt erlebbar ist ..." (1.5.1955). [...] Nüchterner auch der Ton in seinem Geburtstagsbrief 1957: "Wir sind beide heute Andere, als wir vor einem halben Jahrhundert waren; wie banal und wie klar! Aber nie, solange ich lebe, werde ich vergessen, daß Deine verehrungswürdige Persönlichkeit damals DER Inhalt meines (eigentlichen) Lebens war und jahrelang all mein Sehnen und Sinnen, Fühlen und Trachten um Dich, Dich, Dich kreiste. Das Größte, was uns das Leben darreicht, durch Deine Gestalt lernte ich es kennen, zum ersten Male. Du eröffnetest für mich Das, was ich Jahrzehnte später DIE HEILIGE REIHE genannt habe. Das Ereignis war mit Tragik verknüpft ... es verlor dadurch nicht, es gewann dadurch höchstens noch an Bedeutung für mich. Ich bleibe Dir bis zu meinem Tode dankbar für ... damals. Dieses Damals ist kein Damals, sondern in bestimmtem Sinn ein ewiges Heute" (4.5.1957). War das Bild des Freundes vor seinem inneren Auge ein Jahrzehnt zuvor von der jugendlichen Gestalt geprägt, so wird nun der Versuch erkennbar, es einerseits zu bewahren, es aber andererseits auch mit der Realität in eine Art Einklang zu bringen: "Deine Wirklichkeit ist das (gottseidank) wandelnde Korrelat zu der carrarischen Statue, die im Allerheiligsten meines innern, unsichtbaren Tempels steht. Du bist nicht Der von damals? Mag sein, - aber Du bist es eben doch! Ich kann nicht vergessen, wie damals mein junges Herz vor Deiner Herrlichkeit auf den Knieen lag. Nie, solange ich lebe, kann aus meiner Beziehung zu Dir, zu dem wirklichen (auch alten) RWH, das Element der Heiligkeit verschwinden. Und nie der Dank" (25.8.1957). Im August 1958 haben sich die Freunde zum letzten Mal gesehen, als Hirschberg, der kurz zuvor nach Berlin zurückgekehrt war, nach Hamburg fuhr.

Till Böttger: Fritz Böttger und Otto Th. W. Stein unterhalten sich über Kurt Hiller (S. 174-223)

Leipzig W33, am 6. Juni 1958
Mühligstr. 5
Mein hochverehrter lieber Freund!
Nehmen Sie meinen Dank für Ihren schönen Brief vom 21. Mai. Ich hoffe, daß die Marées-Biographie und die Hiller-Rede inzwischen in Ihre Hände gelangten. - Es gibt Rembrandt-Bücher, Riemenschneider-, Grünewald- und Dürer-Romane, aber es gab noch kein Buch, das einen deutschen Maler des 19. Jahrhunderts - und was für einen! - den breiten Massen auf so anziehende und volkstümliche Weise zu Bewußtsein brachte. Nur so wird ein Künstler zu nationalem Besitz. Was die Kunsthistoriker schreiben, bleibt ja doch mehr oder weniger esoterisch. Ich denke, daß auch Sie an dem Buch ein klein wenig Freude haben.
Die Beziehung zu Hiller ist merkwürdig. Sie gleicht dem Verhältnis zu einer kapriziösen Frau, zu einer Diva, die sich nur dann in ihrem Element fühlt, wenn sie ihrem Freund ab und zu eine große Szene macht. Ihnen mutet seine negative Einstellung zu Hegel sympathisch an. Das verstehe und akzeptiere ich. Was aber würden Sie zu einem Kritiker sagen, der über einen Marées oder einen Stein herzieht, ohne auch nur das Geringste von dieser Kunst zu begreifen? Ich kann Ihnen versichern, daß Hiller von Hegel nur so viel versteht, wie ein Bauer oder Korpsstudent, der zum ersten Male die Nase in ein philosophisches Buch steckt. Wer etwas bekämpfen will, der muß es vor allen Dingen erst einmal kennen, sonst wird er zum Don Quijote, der gegen Windmühlen ficht. An drei Beispielen habe ich H. nachgewiesen, daß seine Zitate einen ganz anderen Sinn haben, als den, den er willkürlich unterlegte. Diese Schulmeisterei hat ihn mächtig in Rage gebracht. Ich aber konnte über den Schildbürgerstreich, daß sich zwei vernünftige Menschen über den "Inhalt des Mastdarms eines Ruhrkranken" in die Haare gerieten, nur lachen. Und mein Lachen hat ihn, wie er sich ausdrückt, "enthysterisiert"(!).
Die neueste Hilleriade lautet (auf die Andeutung, daß ich ein Manuskript über Storm in petto habe):
Theodor Storm?
Mich beißt der Worm!
Dazu mußten wir wider die Rechten
In der Dichtung Jahrzehnte fechten,
Daß sie jetzt die Ultralinken
Ihren Schwarm als "Erbe" zinken!
Geistigkeit ist bürgerlich,
Dekadent, asphalten;
Kapitalsweltwürgerlich
Sind die Blubo-Alten!
Darauf konnte ich ihm nur antworten: "Sie wissen als Jurist, was ein Justizirrtum und ein Fehlurteil ist. Storm wurde im Kontumaz zum ‚Blubo-Alten' verurteilt. Gott sei Dank hat ihn Thomas Mann, der hinsichtlich Blubo wohl unverdächtig ist, von diesem Ludergeruch in seinem schönen Essay von 1930, enthalten in der Sammlung ‚Leiden und Größe der Meister', längst gereinigt. Ich aber eröffne das Verfahren neu, finde den Angeklagten auch einer Reihe von Delikten schuldig, ‚Blubo' aber steht so außer jeder Wahrscheinlichkeit oder auch nur Möglichkeit, daß diese Beschuldigung nicht einmal diskutiert werden kann. Sie gehört der Storm-Legende an..."
Übrigens lebte Hiller, ehe er nach London ging, von 1934 bis zum Sturz von Beneš in Prag.
Die Beziehung wird, sofern sie dauert - und danach sieht es aus -, durch viele Krisen laufen. Die Korrespondenz bildet den Kontrast zu der unseren, die immer so harmonisch dahinperlte. Aber auch Atonalität und Zwölftonmusik kann ihre Reize haben.
Wer ist eigentlich der Feuilletonist Max Heller, der in der Liste, die Sie mir einmal schickten, obenan steht?
Seinerzeit sandte mir Herr Forejt freundlicherweise den Zeitungsausschnitt über den Besuch der Prager Journalistin Košnarová bei dem Maler Stein. Ich habe ihn mir übersetzen lassen und auch Frau Müller-Rau eine Abschrift zugehen lassen. Leider fehlt mir das Datum und der Titel der Zeitung, in der die Reportage erschien. Können Sie mir helfen?
Pfingsten verbrachten wir auf dem Kamm des mittleren Erzgebirges bei herrlichstem Wetter. Ich fuhr extra vorweg, um im Chemnitzer Museum endlich einmal Ihre Bilder zu besichtigen. Aber auch diesmal hatte ich wieder Pech. Bis auf die Maler des 19. Jahrhunderts war alles ausgeräumt für eine Groß-Ausstellung aus Berlin "40 Jahre revolutionäre sozialistische Kunst". Vor solchen "Notwendigkeiten" müssen wir freilich kapitulieren.
Hatte ich schon berichtet, daß das Museum in Saarbrücken von dem Maler Heinrich Waldmüller , an den Sie den schönen Brief richteten, den Marwitz in seinem Ausstellungskatalog publizierte, ein Ölbild, ein Aquarell und eine große Zeichnung erwarb? Ein schöner Erfolg für den Künstler und den Kunsthändler, der an ihn glaubte. Leider zu spät.
Aber nun genug für heute. Wer weiß, was mir sonst noch so alles einfällt. Gute und starke Lebenswünsche gehen zu Ihnen und viele, viele Grüße.
Herzlichst Ihr Fritz Böttger u. Familie.


Frýdlant v C. Smilovského 942
10.Juni 58
Mein lieber Freund!
Täuscht nicht alles, dann regt das "Es" sich wieder. Ich glaube das Rascheln zu hören, und in den ersten Tagen dieses Monats könnte der Phönix aus der Asche wieder aufsteigen. Das klingt ja sehr hochmütig, als ob es sich um ein Gott weiß wer was handelte! Aber das soll ja nur ein Geständnis dem Freunde sein, der so viel Anteil an mir nimmt und dessen ich mich nicht zu schämen brauche, wie wenn ich berichtete: Ich war lange krank und lebe nun wieder. Die Neugierde ist groß. Kann es im Alter Verlockenderes geben, als dem entgegenzusehen, was unbekannte innere Kräfte an Wachstum noch hervorbringen: Ich glaube, so müsste ein alter Baum, wenn er es könnte, denken, dem die Gewitter und Stürme des Lebens tiefe Risse in den Stamm geschlagen und soviel große Äste abgebrochen haben, und immer noch steht und weiß, dass er noch lebt, Blätter, Blüten und Früchte hervorzubringen vermag! Mögen die Früchte auch klein sein, wenn sie nur gut sind, erfüllen sie ihren Zweck. So dachte Goethe. -
Für Hans von Marées und Hillers Rede vielen Dank! Beides habe ich soeben ausgelesen und das fordert einen neuen Brief heraus. Schon die erste Ausgabe 1947 Kuttner's kannte ich, vergaß aber nach 11 Jahren fast alles. So war es jetzt für mich ein neues Buch, das mir Anregung gab, über Kunst, Künstler, die Zeit und ihr Publikum nachzudenken. Freilich kam dabei nichts heraus, das ich nicht schon wusste. Dennoch ist die Beschäftigung mit dem größten deutschen Künstler unserer Zeit und dem größten Mäcen aller Zeiten eine Quelle wichtigster Erkenntnisse über das Problem Kunst überhaupt. Da ich als junger Maler der einzige war, der von München, die dortige Biermalerei verlassend, oft nach Schleißheim pilgerte, wo ich vor den erhabenen Werken stets allein nie einen anderen Besucher vorfand, bezeugt dies schon mein besonderes Verhältnis zum Meister. Ein einziges Mal musste ich das Schloß unverrichteterweise verlassen, da sich Meier-Graefe mit Marées eingesperrt hatte. Von dem letzten Schüler Marées, Albert Leskien (ein schwer kranker, 10 Jahre älterer Mensch, dessen deutscher Idealismus pathologisch war, zudem er, bei höchstem Niveau, Jahre über Kunst nachdachte, ohne auch nur die kleinste Skizze zu hinterlassen) erfuhr ich manches, das die Pidoll'sche Schrift über Marées ergänzt. Durch meine Däubler-Frau, die den "Heiligen von Karlsruhe" (wie er genannt wurde) nicht schmecken konnte, kam ich mit ihm auseinander. Heute gibt mir Kuttners Buch Anlass zu mancher Kritik (aber anderer, als sie das neue Vorwort des Verlags enthält, bei dem man merkt, woher der Wind weht! Wo es aber eine "Lizenz" gibt, ist das eine quantité négligeable.) Es gehört aber zu meinen Eigenschaften, dass ich einem Autor gegenüber, dem ich Wertvolles verdanke, Kritik zu unterdrücken suche.
Die Rede Hiller's bestätigt mir, dass nur der parteilose Sozialist frei zu denken und zu wirken vermag, der Korruption entgeht wie auch der Gefahr, zum Dogmatiker zu werden, der die Idee ad absurdum führt und die Demokratie zur Despotie. Despotie unterstützt nur das Anwachsen des heutigen intellektuellen Pöbels, der gefährlicher ist als der gewöhnliche.
Leben Sie wohl, mein lieber Freund! Herzlichst Ihr Stein

1 Beilage

Rüdiger Schütt: "Dass Sie mir unverlierbar gegenwärtig sein werden, solange ich lebe ..." Hans Wollschlägers Briefwechsel mit Kurt Hiller (S. 225-261)

Sein Elitekonzept wollte Hiller auch mit dem 1956 gegründeten Neusozialistischen Bund umsetzen. Die sich hauptsächlich aus Studenten und Künstlern zusammensetzende Gruppe zählte zwischen 30 und 50 aktiven Mitgliedern, darunter der junge Dichter Peter Rühmkorf und die Tänzerin Valeska Gert (1892-1978). Die beherrschende Rolle Hillers und die Bezeichnung der Mitglieder als "Wissende", der Nichtmitglieder als "Uneingeweihte" wirkt sektiererisch und irritierte so manchen Interessenten. Der Bund war so eng an die Person Hillers geknüpft, daß er mit dem Tod seines Vorsitzenden die Arbeit sofort einstellen mußte. "Lynx" fungierte als Organ des Bundes. Hier erschienen in regelmäßigen Abständen die Aufrufe und Thesen, die Erklärungen und Offenen Briefe. Hillers Bemühen, Wollschläger für seinen Bund zu gewinnen, fruchtete nicht sofort. Zu stark mögen die Zweifel an der Effizienz einer Gruppe gewesen sein, die prinzipiell aus nur Wenigen bestehen konnte. Explizit führte Wollschläger seine Arbeitsüberlastung ins Feld sowie weitere persönliche Gründe:
"Die Maximen des Neusozialistischen Bundes kenne ich in den wesentlichen Umrissen. Allein, beitreten möchte ich nicht - aus freilich ganz unzureichenden Gründen -: ich könnte, rein ‚technisch', nicht mehr dafür tun, als ich auch als Nicht-Mitglied tun könnte (denn ich muß von dem leben, was mir mein Tipp-Finger einbringt, und habe einen 16-Stunden-Tag, um leben zu können); zweitens bin ich, von meiner verfluchten Natur her, ein ‚unaktiver' Mensch, der alle Konzentration nötig hat, um seinem schwermütigen Temperament gelegentlich wenigstens im Alleingang die Aktivität schriftlich verbreiteter Denk-Anträge abzugewinnen: hier liegt meine Grenze. Der Rest ist ‚Taktik': ich muß darauf sehen, daß mir nicht um irgendeiner Gruppenzugehörigkeit willen von den wenigen, mir noch offenstehenden Türen einige zuschlagen werden, die ich, mit List und Vorsicht, offenhalten könnte; ich muß die Entscheidung darüber, welche Türen ich mir um welcher Dinge willen zuschlage oder zuschlagen lasse, in ausschließlich eigener Hand behalten... Ist das sehr abzulehnen?"
Brillant argumentierte Hiller so, daß sämtliche Bedenken Wollschlägers sofort entkräftet wurden. Und tatsächlich gelang es ihm, den jungen Kollegen zum Beitritt zu bewegen. Unter Hillers Argumentationsdruck mußte Wollschläger kapitulieren: "So habe ich auch Stichhaltiges gegen Ihre Argumentation in Sachen Beitritt zum Neusozialistischen Bund nicht denken können -: im Gegenteil, ich muß Ihnen eigentlich in allem zustimmen."

Hans Wollschläger
Bamberg
Hohe-Kreuz-Str. 43
15-8-65
Sehr verehrter, lieber Herr Dr. Hiller,
daß der Tag, der zu den vielen Anlässen, Ihrer zu gedenken, einen sehr besonderen fügt, hierzulande nicht breit und öffentlich (und, wenn's denn geistiger nicht ginge, auch hierzulandes=gemäß ‚feierlich') begangen wird, ist tief erbitternd: wie für Sie auch für die Jenigen, die Wenigen, die einen Begriff davon zu haben glauben, was die achtzig Jahre Ihres Da=Seins bedeuten. Es könnte freilich, was so sichtbar ungerecht ist, zuletzt auch einer Art Gerechtigkeit genügen: jener, die aller Mehrheit in diesem Lande untersagt, Sie als den ihren zu proklamieren, zu kompromittieren -: in diesem Lande, das Ihnen so Schlechtes zufügte, wäre es Anmaßung, sich nur mit flinken Lippen auf Sie zu berufen: Sie auch nur zu loben, ist den Deutschen (und muß man die Deutschen nicht für "die Schlechten" des Originals setzen?) auf einige Zeit noch nicht erlaubt...
Sich davon auszunehmen, sich zu den Wenigen zu zählen, auf die Sie zählen können, wäre keine kleine Kühnheit also, und sie dürfte nicht gewagt werden, käme nicht der Wunsch, Sie an diesem Tage Dankbarkeit und Verehrung wissen zu lassen, dem Willen hinzu, mit der Mehrheit auch nicht das Schweigen gemein zu haben. Es - dieser Mehrheit gegenüber - mit brechen zu helfen: es - öffentlich - mit aussprechen zu helfen, was an diesem Tage gedacht zu werden hat: war mein Wunsch; - seiner Erfüllung fehlte das Instrument (die Zeitung, der Sender), das mir Jene vorenthalten, die nach alter Anweisung zum Seligen Leben nur den Ochsen, die da dreschen, das Maul nicht verbinden.
So bleibt mir nur der Weg, Ihnen persönlich auf diese Weise anzudeuten, was man mich öffentlich nicht sagen läßt... und vor der Fülle dessen, was zu sagen wäre, finde ich es schwer. Wenn ein schlichtes Bekenntnis auf Ihre Nachsicht rechnen dürfte, so ließe sich vieles damit ausdrücken: daß ich von Ihnen - wie von Nietzsche - gelernt habe und immer wieder lerne, wie gegen den stetigen Zweifel, ob es ein Fortschreiten gebe, fortzuschreiten ist; - daß Ihre Gedanken, Ihre Thesen mir, dem ein schwarzgalliges Temperament den Kopf bei jedem Versuchen tiefer zwischen die Nebel der Vergeblichkeiten drückt, stets notwendig, ja selbsterhaltend waren und sind; - daß sie mir unverlierbar gegenwärtig sein werden, solange ich lebe...
Ich möchte Ihnen Wünsche aussprechen und finde es schwer. Denn jenes "Glück" der Formel, die der Bürger will, röche mir allzu all=gemein nach jener falschen, erfailschten Eudaimonie : die nur der Bürger will. Ich weiß auch wohl zu wenig von den Umständen, die Ihr Leben umgeben, es vielleicht schwer machen, als daß ich so ganz einfach und ganz ohne Zögern Ihnen wünschen dürfte, was wir - alle, die Ihnen zuhören - uns wünschen und erhoffen: Daß Sie noch lange weiterleben mögen... So bliebe dies mein Wunsch: daß Ihr Alter bis zum letzten Tag von physischem Elend frei bleibe - und daß Ihr Geist über alle Tage hin, über jene ‚Ewigkeit' hin, mit einzig der wir Agnostiker rechnen dürfen, frei und lebendig bleibe: nicht nur in einem Pantheon seiner bloßen ‚Geschichte', sondern weitergereicht und erneuert in stetig neuen Geistern.
Seien Sie herzlich gegrüßt, in Dankbarkeit und Verehrung, von Ihrem
Immer ergebenen
Hans Wollschläger


Hamburg 31/X 68
Sehr geehrter Hans Wollschläger
soeben las ich Seite 48/49 in >Wer lehrt...< und fand mich breit, findig, aufs geschickteste zitiert. Als ich schrieb, was Sie zitieren , war ich 35-36 Jahre alt; ich sage heute Ja dazu, bis in die letzte Faser. Übrigens kontrastiert es herrlich mit dem unmittelbar danach von Ihnen ausgestellten Supramist des liebenswürdigen Gegenaufklärers, dem Sie Ihre sehr dankenswerte Studie gewidmet haben.
Unter den Theolügnern Hamburgs gibt es einen weniger bekannten, aber weit gerisseneren und gefährlicheren als Thielicke ; das ist Hans Schomerus, Starmitarbeiter der WELT; den sollten Sie sich mal vorknöpfen. Verderblich finde ich auch, dass der (relativ verdienstvolle) Niemöller , just er, der >Friedensgesellschaft< präsidiert - als ob ein ontologisch unhaltbarer Präses deontologisch Beachtliches leisten könnte!
Vielmals grüßt
Ihr Kurt Hiller

Thanks to the Editors for forwarding!
KH