Auszüge aus dem Buch: Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft Band
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Ruprecht Großmann: "... er bringt mit ergötzlichem
Temperament Phrasen auf seiten seiner Gegner zur Strecke ...". Kurt Hiller als
Vordenker und Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechts (S. 11-46) |
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Ewigkeitswert hat Hillers lebenslanger und letztlich erfolgreicher Kampf um die
Befreiung der Homosexualität von der Strafbarkeit und damit zugleich um ihre gesellschaftliche
Achtung und Anerkennung. Hier, in seinem ersten wissenschaftlichen Statement zum Problem,
hat er bereits die wesentlichen Argumente gegen die Strafwürdigkeit zusammengetragen.
Vergleichbar dem informationellen Selbstbestimmungsrecht gibt es auch ein existenzielles
Selbstbestimmungsrecht und ein sexuelles Selbstbestimmungsrecht des Menschen, die sich
beide aus Art. 2 GG i.V.m. Art.1 Abs.1 GG ergeben und damit einen Teil des allgemeinen
Persönlichkeitsrechts bilden. Und wer als Erster die Vorarbeiten für diese
Rechtskonstruktion geleistet hat, dürfte nach allem auf der Hand liegen: Kurt
Hiller mit der Studie "Das Recht über sich selbst"! Er stellte 1908
diese These auf und belegte sie an neun Straftatbeständen des StGB von 1871. Dabei
darf nicht unerwähnt bleiben, daß Karl Kraus formal stärker literarisch,
aber durchaus mit juristischem Inhalt, zur gleichen Zeit die freie Selbstbestimmung
propagierte.
Im Vergleich zu Hillers wissenschaftlicher Arbeit vor 100 Jahren stellt sich das vor
50 Jahren ergangene Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 10.5.1957 als Rückfall
in die frühere Strafrechtsgeschichte, Hillers Schrift "Das Recht über
sich selbst" dagegen als Fanfare in die Zukunft der Strafrechtsreform dar.
Nun ging alles sehr schnell. Das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969 beschränkte
die Strafbarkeit in § 175 auf die qualifizierten Tatbestände, also auf Fälle,
in denen der Partner unter 21 Jahre alt ist oder in einem Arbeits- oder Unterordnungsverhältnis
steht sowie auf gewerbsmäßige Unzucht, ferner in § 176 auf Fälle
der Androhung oder Anwendung von Gewalt. Die Neufassung des StGB vom 2.1.1975 nahm
insofern eine weitere Strafbarkeitseinschränkung bei § 175 vor, als die Altersgrenze
des Partners auf 18 Jahre herabgesetzt wurde. Mit dem 29. StrÄndG vom 31.5. 1994
wurde § 175 ganz gestrichen und die Jugendliche betreffenden Sonderregelungen
in § 182 (Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen) eingeordnet. Diese Systematik
wurde mit der Neufassung des StGB vom 13.11. 1998 und dem Gesetz zur Änderung
der Vorschriften über die Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (!) vom
27.12.2003 fortgesetzt. Die Homosexualität oder Gleichgeschlechtlichkeit als begrifflicher
Sondertatbestand wird im Gesetz nicht mehr erwähnt. Unter der Überschrift
"Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung" regeln heute zahlreiche
Einzelbestimmungen die Strafbarkeit des sexuellen Mißbrauchs von Kindern (§§
176, 176a und b), Jugendlichen (§ 182), Minderjährigen (§ 180), Schutzbefohlenen
(§§ 174, 174a - c), Widerstandsunfähigen (§ 179) und Gewaltopfern
(§§ 177, 178). Diese auf den ersten Blick als übermäßig erscheinende
Gesetzesflut ist sachlich einleuchtend und in dreifacher Hinsicht eine Bestätigung
der Konzeption Hillers. Erstens wird die Homosexualität nicht mehr als eine zur
Ausstoßung führende Abart, sondern - auch im Einklang mit der Auffassung
Hirschfelds - als eine normale Variante einer umfassend verstandenen Sexualität
qualifiziert. Zweitens wird das von Hiller kreierte sexuelle Selbstbestimmungsrecht
das grundlegende Prinzip des Sexualstrafrechts. Und drittens wird der von ihm und Karl
Kraus sorgfältig erstellte Katalog der schutzwürdigen Rechtsgüter gewährleistet.
Es darf wohl behauptet werden, daß diese Entwicklung bei Kurt Hiller Genugtuung
und Freude ausgelöst hätte. |
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Wolfgang Beutin: "Sittlichkeit und Kriminalität" (1908),
eine Schrift von Karl Kraus als österreichischer Beitrag zur Sexualreformbewegung
(S. 48-74) |
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Für das, was in der "christlichen Nacht" an sexuellen Vorkommnissen
abgelehnt, gelästert, verleumdet, tabuiert, verboten, verfolgt wurde, liefert
Kraus eine beträchtliche Reihe Beispiele. Einige davon sind:
Der außereheliche Geschlechtsverkehr. "Mit feinem Takt sehen wir jene richterliche
Naivität angenehm gepaart, die jedesmal in grenzenloses Staunen gerät, so
oft die Fabelkunde in den Gerichtssaal dringt, daß es in der weiten Welt so etwas
wie außerehelichen Geschlechtsverkehr gebe." (SK 27)
Die Variationen der Liebe (Abirrungen, Deviationen, Perversionen): Kraus wendete sich
energisch gegen Krafft-Ebings Verurteilung der Variationen der Liebe (in seiner "Psychopathia
Sexualis, 1893), mit folgender Argumentation: "Sind wir noch immer nicht über
den geistigen Horizont eines Krafft-Ebing hinaus, der sich über die Resultate
seiner wissenschaftlichen Forschung sittlich entrüstet? Der Phantasie für
krankhaft und Krankhaftigkeit für ein Laster hält? Er spricht von einer Ausgeburt
höllischer Phantasie, wenn der sinnliche Strom einmal wo anders mündet, als
es in den Normalien vorgezeichnet ist, wenn zwei Menschen das tun, was die Asexualität,
die über die bloße Andeutung der Gefühle nicht hinauskommt und sich
darum fast stets prostituiert, als Perversität' verfemt, was aber gesunde
Unbewußtheit seit Erschaffung der Welt als selbstverständlichen Ausdruck
der Leidenschaft betätigt. In der Liebe gibt es nichts Anstößiges,
solange der unbeteiligte Moralrichter nicht seine Nase hineinsteckt und die Nachtwandler
zur Besinnung ruft." (SK 121)
Und: "
die Verfolgung geschlechtlicher Abarten" fördert die Chantage,
und "so löst auch jeder andere Versuch, das Privatleben mit einem Paragraphenzaun
zu umhegen, neue Unmoral, neue Strafwürdigkeiten aus." (SK 16)
In der folgenden Passage erweist Kraus sich als genuiner Schüler Freuds: "Alles,
was sich neben der Liebe begibt, fließt, ihn zu verstärken, in den Hauptstrom
der Sexualität." So sei es denn der "volle Mann, dem die Möglichkeiten
der doppelgeschlechtlichen Naturanlage nie versperrt sind und der die Lust am Weibe
nicht nur beweist, sondern vermehrt, wenn er die Lust am Manne versucht
"
(SK 238; hier stützt sich Kraus auf das Theorem der Bisexualität, wie es
auch in der Psychoanalyse zugrunde gelegt wird.)
Die Abtreibung: Kraus prangerte "das Verbot der Fruchtabtreibung" als "das
größte Verbrechen" an, "das ein Strafgesetz
begeht":
"Es ist nicht anzunehmen, daß die in Paragraphenwaffen starrende Niedertracht,
die den innersten Besitz an menschlicher Freiheit bedroht und den Uterus zu Abgaben
zwingt, sich mit einem Mal eines Bessern besinnen, daß die staatliche Schamhaftigkeit,
die den Geschlechtsverkehr lediglich für eine lästige Formalität bei
der Fortpflanzung ansieht und unter allen Lebewesen bloß den Störchen eine
gewisse Freizügigkeit gewährt, sich plötzlich ihrer selbst schämen
werde. Aber der Nachweis, daß das Verbot der Fruchtabtreibung das größte
Verbrechen ist, das ein Strafgesetz
begeht, dient doch wenigstens der Aufrüttelung
jener Gehirne, die immer in der besten aller Welten leben. Die Dummheit sitzt freilich
so tief, daß sie solchem Weckruf mit dem Einwand begegnet: wenn die Fruchtabtreibung
gestattet würde, fiele die letzte Hemmung, die sich die weibliche Keuschheit heute
noch auferlege. Daß doch die Keuschheit überhaupt die Neigung hat, die Keuschheit
aufzugeben! Und daß es eines Strafgesetzes bedarf, sie davon zurückzuhalten!"
(SK 222)
Prostitution. - Kraus widersetzte sich der zu seiner Zeit üblichen Schmähung
und Verachtung der Prostitution mit größter Verve. Ob nun die Verfemung
von Männern in Talar oder Männern ohne oder von Frauen ausging. Hasserinnen
der Prostituierten kennzeichnete er: "Unbefriedigte Weiber, denen Hysterie längst
die Traube ihres Geschlechts sauer gemacht hat, entrüsten sich über die Lebenshaltung
der Prostituierten. Weg mit den Tugendmegären, bei denen sich verhinderte sexuelle
Notwendigkeiten in Sozialpolitik umgesetzt haben!" Seinerseits trug er vor allem
ein sozialpolitisches Argument vor: daß die Arbeitsbedingungen, die den Frauen
in den Werkhallen der Industrie zugemutet wurden, vielfach bedeutend schlechtere waren
als die der Prostituierten: "Denn grauenerregend und weit grauenerregender als
die entgeltliche Hingabe des weiblichen Körpers an mehrere Männer ist seine
schlecht bezahlte Hingabe an den Dienst in einer Zündhölzchenfabrik."
(SK 202)
Nicht zuletzt den Staat seiner Epoche befehdete er wegen dessen zwiespältigen
Umgangs mit der Prostitution, in direkter Anrede: "O du alter nichtsnutziger Lümmel,
du ausgeschämter Hallodri du, heiliger Saufaus und ehrbarer Wüstling, du
nimmst den Töchtern der Wollust die sauer erworbenen Groschen, hebst den Zins
von allen Schanden ein, und gehst hin und verklagst die überhand nehmende Unsittlichkeit!"
(ChM 7)
Abermals den von ihm so oft verspotteten Staatsanwalt aufs Korn nehmend, stellte er
die doppelte Frage: "Verstünde er es, wenn ihm ins Hirn gebrannt würde,
daß das Hurentum das letzte Heroentum einer bankrotten Kultur bedeutet? Oder
es ist bloß eine soziale Notwendigkeit, und Hunderttausende opfern sich einem
Beruf, der Achtung verdient wie ein anderer und dessen Verächter sich hüten
sollten, Vergleiche mit Wert und Nutzen ihres eignen Berufes zu provozieren."
(ChM 11)
Nun auf die Staatsanwälte und Richter zugleich bezogen: "Sie werden es ja
doch nie einsehen, daß die Prostitution die Menschheit mehr freut als die Jurisdiktion,
daß die Existenz der letzten Schanddirne' kulturvoller und sauberer ist
als die eines Staatsanwalts, der sich nicht scheut, das hundertjährige Pöbelwort
in einen Mund zu nehmen, den er vielleicht soeben vom Kuß einer Schanddirne abgewischt
hat. Sie brauchte nur zu winken, und er kam, sie brauchte nur das Zauberwort zu sprechen:
Gehst her, elender Sklave!', und er nannte sie seine Herrin. Sie dient einer
Naturnotwendigkeit, die unverwüstlich ist und keiner Verbesserung fähig;
er aber prostituiert sich einer miserablen Gesetzlichkeit, die er nicht fühlt
und die er doch erfüllen muß, weil er von ihr lebt." (ChM 16)
Wie schon der österreichische Dramatiker Ludwig Anzengruber es in seinem Drama
"Das vierte Gebot" dargestellt hatte, worin zum Schluß beide, die Dirne
wie die Ehefrau, erkennen müssen, daß sie in der Gesellschaft ihrer Zeit
nur "Verkaufte" sind, sieht Kraus auch in der (üblichen) bürgerlichen
Ehe eine - krassere? - Form der Prostitution: "Daß die so versorgten Jungfrauen
nicht samt und sonders am Hochzeitstag ins Wasser gehen, zeugt für die gesunde
Prostitutionsfähigkeit ihres Geschlechts, der keine Familienerziehung etwas anhaben
kann." (ChM 15)
Kuppelei: Was hatte der Vater Veith getan? Einerseits das Gewerbe seiner Tochter toleriert,
auf der anderen Seite toleriert, daß Mizzi mit ihren Einnahmen ihn, den Vater,
unterstützte. "Er hat also eine strafgesetzlich erlaubte Handlung, die Prostitution
seiner Tochter, geduldet und eine ethische Handlung, die Unterstützung des Vaters
durch das Kind, gefördert." Die Justiz nannte das Kuppelei. Kraus definierte
daher satirisch: "Der Konnex einer erlaubten und einer sittlich gebotenen Handlung
bildet das Verbrechen der Kuppelei." (ChM 15) "Und wer außer jenen
Tröpfen, die sich den Geschlechtsverkehr bloß auf ethischer Grundlage und
nicht auf einem Divan vorstellen können, leugnet, daß auch die Kuppelei
einem in der Weibsnatur vorrätigen Trieb entspreche? Als Fortsetzung der Prostitution
ist sie zunächst ein psychischer, und dann erst ein sozialer Zustand. Wie sollte
sie aber, solange sie bloß den für den Geschlechtsverkehr nun einmal unentbehrlichen
Ort der Handlung beistellt, ein crimen sein?" (SK 184) |
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Harald Lützenkirchen: Ein Leben lang im Recht. Kurt Hillers juristisches
Wirken (S. 76-89) |
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Ab 1908 arbeitete Hiller im sexualwissenschaftlichen Institut Magnus Hirschfelds
mit, wobei er in dessen Wissenschaftlich-humanitärem Komitee zeitweilig Zweiter
Vorsitzender war. Hiller erarbeitete Petitionen zugunsten eines liberalen Sexualstrafrechts,
befragte vor Wahlen die Parteien zu ihrer Haltung zu einem liberalen Sexualstrafrecht,
schrieb als Jurist gutachtliche Erklärungen, um in Prozessen Menschen zu helfen,
denen in Anklagen wegen Verstoßes gegen den § 175 eine besonders illiberale
Rechtsauslegung drohte.
Eine besonders konstruktive juristische Arbeit leistete Hiller, als Mitte der Zwanziger
Jahre ein Entwurf zu einem neuen Sexualstrafrecht dem Reichstag vorlag, welcher in
einigen Punkten das bisherige Recht noch verschärfen, illiberaler gestalten sollte.
Das WhK tat sich mit anderen Organisationen zusammen, und unter Hillers redaktioneller
Leitung verfaßte dieses Kartell einen Gegen-Entwurf zum amtlichen Entwurf, der
Paragraph für Paragraph alternative Bestimmungen formulierte und begründete.
Jedoch kam es in den turbulenten Zeiten gegen Ende der Weimarer Republik zu keiner
Verabschiedung eines neuen Sexualstrafrechts.
Mit welch lächerlichen Bestimmungen der Regierungsvorlage es das Kartell mit seinem
Gegen-Entwurf zu tun hatte, zeigen die folgenden Ausführungen Hillers zu einer
geplanten Bestimmung betreffs des Alters homosexuell sich Betätigender: "Wir
hatten, paritätisch für junge Mädchen und junge Männer, ein Schutzalter
von sechzehn Jahren vorgeschlagen; die Regierungsvorlage hatte das Schutzalter für
junge Männer auf achtzehn Jahre festgesetzt; der Reichstagsausschuß erhöhte
es auf einundzwanzig Jahre! Freilich muß auch der Verführer' einundzwanzig
Jahre alt sein. Diese Normierung hat groteske Folgen. Ein Neunzehnjähriger darf
danach mit einem Siebzehnjährigen eine erotische Freundschaft schließen;
zwei Jahre lang dürfen sie, unbehindert vom Strafgesetz, so intim miteinander
verkehren, wie es ihnen beliebt; dann aber, vom einundzwanzigsten Geburtstage des Älteren
an, müssen sie, soll dieser nicht straffällig werden, sich der Askese hingeben;
abermals zwei Jahre lang; denn sobald der Jüngere das einundzwanzigste Jahr erreicht
hat, dürfen sie wieder. Ein Meisterstück unserer Gesetzgeber!" |
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Alexandra Gerstner: Der Philosoph als Gesetzgeber. Nietzsche-Rezeption
im literarischen Aktivismus (S. 91-105) |
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Die zentrale Funktion der Philosophie Nietzsches im Aktivismus ist zunächst
im Gedanken des Herrschaftsanspruchs des Künstlers, Literaten oder Philosophen
zu sehen. Die Aktivisten übernahmen von Nietzsche und auch Platon das Ideal des
gesetzgebenden Philosophen - es bleibt aber die Frage, ob sie tatsächlich die
neuen Philosophen verkörperten, die Nietzsche heraufbeschworen hatte. Waren ihre
Antibürgerlichkeit, ihr Dilettantismus und ihr Antigelehrtentum schon Ausweis
der Freien Geister? Den Gedanken der Herrschaft wendeten die Aktivisten zur Pflicht
des Intellektuellen, politische Verantwortung für die Gesellschaft zu übernehmen.
Das jedoch, was sie unter dem Geistigen verstanden und die ethischen Grundlagen ihrer
Politik waren im Grunde gegen Nietzsche gerichtet. Insbesondere die Absolutsetzung
der Vernunft als gesetzgebender Instanz und die Ableitung allgemeingültiger moralischer
Werte waren nicht mit Nietzsches Denken zu vereinbaren. Nichtsdestotrotz verstanden
sich die Aktivisten selbst sehr wohl als die neuen Philosophen, das heißt als
Freie Geister. Der sozialistische Humanismus und der Kampf für eine gerechte Gesellschaftsordnung
waren jedoch nur schwer mit Nietzsches These vom absoluten Wert des Lebens und der
Tat in Einklang zu bringen - und diese unlösbaren Widersprüche mußten
letztlich zu der politischen Wirkungslosigkeit des geistesaristokratischen Sozialismus
führen. Der elitäre Antidemokratismus der Aktivisten führte viele von
ihnen, wie auch zahlreiche andere Intellektuelle, zu einer ästhetischen Begeisterung
für den italienischen Faschismus. Geschuldet war diese Annäherung den antibürgerlichen
und geistesaristokratischen Impulsen, die der Aktivismus mit dem Faschismus teilte.
Die humanitären und sozialen Ambitionen der Aktivisten scheiterten nicht zuletzt
auch deshalb, weil ihre Verachtung der Masse und ihre Bewunderung für die "Faust-
und Autoritätsmenschen" sie daran hinderten, angemessene Formen der politischen
Partizipation zur Umsetzung ihrer Ziele zu finden. |
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Klaus Schuhmann: Vom "Bebuquin" zum "Taugenichts".
Kurt Hiller als Literaturkritiker (S. 106-113) |
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Hiller erkennt in der ichdissoziierten Gestalt Bebuquins einen Leidenden, jenem
Mann vergleichbar, den einige Jahre später Gottfried Benn unter dem Namen Rönne
beim Erobern einer Stadt scheitern läßt. Dabei will Bebuquin "etwas
ganz Eigenes werden, keine Kopie mehr sein, nicht unter den vielen vorhandnen Dingen,
Stilen, Erkenntnissen, Möglichkeiten wählen müssen [...] Aber da er
keinen End-Zweck sieht, muß er den einzelnen leugnen. So scheint ihm seine letzte
Rettung eine anständige Langeweile zu sein; doch bald empfindet er es als moralisch
inkonsequent, weiter zu leben [...] Er betet um Krankheit, damit der Schmerz den Geist
paralysiere; er betet, da im Leben Wandlung (durch Verlust des Gedächtnisses)
nicht erzielbar scheint, um den Tod [...] Er stirbt - ohne daß von Physiologischem,
Krankheit oder Selbstmord die Rede wäre - an Skepsis, an (unpathetischer) Verzweiflung,
an Leere."
Daß Kurt Hiller diese Zeitkrankheit gut versteht, hat gewiß auch damit
zu tun, daß sie philosophischer Art ist und zudem bei Denkern "semitischer
Herkunft" (Hiller fragt: "Ein semitischer Faust?") ihm gut bekannter
Romanhelden wie Walder Nornepygge (bei Max Brod), bei Otto Weininger und Max Steiner
ebenfalls zu diagnostizieren war; dies macht ihm dieses Buch sympathisch, wenngleich
dann doch noch ein paar Einwände zu Papier gebracht werden. "Aber Einwände
hin, Einwände her ...", hier ist ein Buch entstanden, nach dessen Lektüre
der Kritiker "bedingungslos klatschen" kann.
Nicht so beim "Trottelbuch" von Franz Jung, der 1912 mit dieser Publikation
debütierte und dem Kritiker nicht persönlich bekannt gewesen ist und an einer
anderen Zeitkrankheit litt: dem Geschlechterkonflikt, wie ihn vor allem August Strindberg
aufbrachte und ihm einige Expressionisten dabei folgten. Ein solcher Konflikt war in
Hillers Lebensführung nicht vorgesehen. Bei Franz Jung stand nicht der von Zweifeln
geplagte junge Intellektuelle im Zentrum, sondern ein von seinen sexuellen Trieben
gesteuertes Paar, für das es kein Entkommen geben konnte.
Diesem Schlesier wurden zwei Generationsgefährten schon eher gerecht als der Kritiker
aus der Reichshauptstadt: der Jugendfreund Max Herrmann-Neiße und Ernst Blass,
der zu jenen Lyrikern zählte, deren Gedichte Hiller in den "Kondor"
aufgenommen hatte. Der mußte nicht vor dem "Trottelbuch" wie Hiller
"streiken". Blass fand die vier Novellen "unheimlich und menschlich",
und er bescheinigte dem Verfasser die Fähigkeit, "das Durcheinander eines
Daseins wahrzunehmen, in dem vor Schmerz keiner mehr aus den Augen sehen kann, alles
zusammenstößt, kämpft, brüllt, hingerichtet wird, jeder wie wahnsinnig
hinter seiner Sehnsucht herläuft und die Geschlechtlichkeit dunkel tobt."
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Claude Foucart: Kurt Hiller und André Gide. Literatur und Politik
in einer schwierigen Zeit (S. 114-126) |
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Aber man sollte einen Aspekt der Gideschen Analyse nicht vergessen, der Kurt Hiller
in höchstem Maße interessieren sollte. Im Brief, den er Gide aus Prag am
22. September 1936 schickt, wirft er das Problem der Homosexualität in der UDSSR
auf. Gide selbst war besorgt von der Haltung des sowjetischen Regimes in dieser Hinsicht.
In einem Gespräch mit Pierre Naville, am 4. November 1936, kommt er, sagt uns
die Kleine Dame, auf die "kleine Passage über die Homosexuellen aus dem Buch
Gides, die er so diskret wie möglich gestaltet hat" , zurück. Es handelt
sich wohl in der Tat um die Anspielung in Zurück aus Sowjetrußland auf die
Rechtsgewohnheiten, die auf eine Rückkehr zu den "bürgerlichen Instinkten"
hindeuten: "Was soll man jedoch, vom Standpunkt des Marxisten aus, über das
schon ältere [Gesetz] gegen die Homosexuellen denken?" Nun also kommt Gide
privat auf dieses Thema zurück und spricht von einem "schwachsinnigen, unzulässigen"
Gesetz, zugleich hinzufügend, daß er die sowjetische Logik verstehe. Denn
"in irgendeinem Punkt ein Opponent der Menge zu sein, schärft den kritischen
Geist und führt dazu, ein Revolutionär, ein Ungehorsamer zu werden."
Und Kurt Hiller, im Brief an Gide aus Prag am 22. September 1936, legte ebenfalls den
Finger auf das Problem der sowjetischen Gesetzgebung, was die Homosexuellen angeht,
und er ruft zu Aktionen auf "zum Schutz der Kultur". Er greift unverzüglich
Barbusse und Gorki an, die ihrerseits in Moskau ihre "vulgären Instinkte
gegenüber der Homosexualität" enthüllten und so einer möglichen
Änderung der geltenden Rechtsprechung schadeten. Hiller, der 1908 seine Doktorarbeit
über "Das Recht über sich selbst" geschrieben hatte, in der er
die Homosexualität nicht als Krankheit betrachtete, sondern als "eine Variante"
der Sexualität, erinnert sich hier vor allem der Deklarationen, die auf dem Zweiten
Kongreß für Sexualreform eingebracht worden waren, zugunsten "einer
unterdrückten Varietät des Menschen", ein in Kopenhagen 1928 abgehaltener
Kongreß. Bei dieser Gelegenheit erinnert er an das Einschreiten von Barbusse
in der Zeitschrift Les Marges vom 15. März 1926. Barbusse gab hier eine Definition
der Homosexualität, die Kurt Hiller nur verurteilen konnte: "Ich meine, diese
Verkehrung eines natürlichen Instinkts ist, gleich vielen andern Perversionen,
ein Merkmal des tiefen sozialen und sittlichen Verfalls eines bestimmten Teiles der
gegenwärtigen Gesellschaft." Und Kurt Hiller appellierte an Gide, der als
einziger in der Lage war, die sowjetischen Politiker zu beeinflussen. Am 13. November
1936 erschien Zurück aus Sowjetrußland, in dem Hiller ein Echo seiner moralischen
Hauptsorge wiederfand. |
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Manfred Herzer: Kurt & Rolf (Der Kreis) (S. 128-158) |
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In seinem Brief vom 18. Juni 1937 erzählt Meier, vermutlich als Antwort auf
Hillers Nachfragen, noch einmal detaillierter die Geschichte der "Schweizer Gruppe",
und jetzt auch einiges aus ihrer Vorgeschichte:
"Vielleicht wissen Sie, dass wir in Zürich noch einen kleinen Homoeroten-Klub
haben, in dem sich hin und wieder Menschen aus aller Welt treffen: verängstigte
Deutsche, Österreicher, Tschechen, Franzosen, Amerikaner, Engländer. Das
hört sich auf den ersten Anhieb ganz gross an. Sie dürfen sich aber nicht
vorstellen, dass diese illustren Besucher an jedem Klub-Abend (je Mittwochs, Samstags
und Sonntags) anzutreffen sind. Es gibt Abende, wo es ausserordentlich interessant
und international her- und zu-geht und andere Abende sind wieder ebenso ausserordentlich
langweilig. Das liegt in verschiedenen Dingen begründet. Vor allem steckt alles
noch in den Anfängen, trotz der vier Jahre, während denen ich mich der Sache
auch ein wenig annehme."
Seit 1942 erscheint die kleine Zeitschrift ohne eine lesbische Abteilung und besteht
nur noch aus dem von Meier redigierten "Herrenteil". Im folgenden Jahr wird
der Titel geändert: Menschenrecht heißt seit 1943 Der Kreis. Später
nennt Meier einen Grund für die Namensänderung: Eines Morgens - vermutlich
1942 - wurden er und die Zeitschriftengründerin Anna Vock verhaftet, weil die
Schweizer Polizei Menschenrecht für eine "kommunistisch getarnte Angelegenheit"
hielt. Man ließ die beiden schnell wieder frei, weil die Abwegigkeit des Verdachts
offensichtlich war. Aus Angst davor, noch einmal mit Kommunisten verwechselt zu werden,
wählten Herr Meier und Frau Vock den "politisch weniger verfänglichen
Namen" Der Kreis.
Am 26. März 1957 unternahm Hiller einen erfolgreichen Anlauf zur Wiederbelebung
der alten Freundschaft mit Meier. Er schrieb an den lieben Rolf einen Brief [...] Hiller
teilt mit, daß er inzwischen dauerhaft in Hamburg wohnt, und kommt dann gleich
zur Sache:
"Meine Ansichten über die Bewegung sind in jeder Hinsicht die geblieben,
die Du kennst. Dazu gehört also auch: daß die Leistung, die in sovielen
Jahrgängen des KREIS steckt, sehr hohe Achtung verdient, daß aber die Nichtgewilltheit
des Herausgebers, seine Zeitschrift zu einem Kampforgan für Deutschland und Österreich
zu machen, bedauerlich bleibt." |
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Hans-Günter Klein: "Um solcher Stunden willen lebe ich".
Kurt Hillers erotisch getönte Freundschaften und seine "heilige Reihe".
Aus den Briefen an Rolf Walther Hirschberg (S. 160-172) |
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Auffällig ist, daß sich in Hillers Briefen aus den Jahren nach 1948 so
starke, emotional geprägte Äußerungen wie aus den Jahren davor nicht
mehr finden. Fast schon nüchtern "protokolliert" er in seinem Brief
zu Hirschbergs Geburtstag 1955: "Im Sommer 1905 aber verhexte mich das 16jährige
junge Genie, in seiner azuren-ionischen Juniblüte; die archipelagische Gottheit.
Ich erlebte durch Deine junge Herrlichkeit das Höchste, was überhaupt erlebbar
ist ..." (1.5.1955). [...] Nüchterner auch der Ton in seinem Geburtstagsbrief
1957: "Wir sind beide heute Andere, als wir vor einem halben Jahrhundert waren;
wie banal und wie klar! Aber nie, solange ich lebe, werde ich vergessen, daß
Deine verehrungswürdige Persönlichkeit damals DER Inhalt meines (eigentlichen)
Lebens war und jahrelang all mein Sehnen und Sinnen, Fühlen und Trachten um Dich,
Dich, Dich kreiste. Das Größte, was uns das Leben darreicht, durch Deine
Gestalt lernte ich es kennen, zum ersten Male. Du eröffnetest für mich Das,
was ich Jahrzehnte später DIE HEILIGE REIHE genannt habe. Das Ereignis war mit
Tragik verknüpft ... es verlor dadurch nicht, es gewann dadurch höchstens
noch an Bedeutung für mich. Ich bleibe Dir bis zu meinem Tode dankbar für
... damals. Dieses Damals ist kein Damals, sondern in bestimmtem Sinn ein ewiges Heute"
(4.5.1957). War das Bild des Freundes vor seinem inneren Auge ein Jahrzehnt zuvor von
der jugendlichen Gestalt geprägt, so wird nun der Versuch erkennbar, es einerseits
zu bewahren, es aber andererseits auch mit der Realität in eine Art Einklang zu
bringen: "Deine Wirklichkeit ist das (gottseidank) wandelnde Korrelat zu der carrarischen
Statue, die im Allerheiligsten meines innern, unsichtbaren Tempels steht. Du bist nicht
Der von damals? Mag sein, - aber Du bist es eben doch! Ich kann nicht vergessen, wie
damals mein junges Herz vor Deiner Herrlichkeit auf den Knieen lag. Nie, solange ich
lebe, kann aus meiner Beziehung zu Dir, zu dem wirklichen (auch alten) RWH, das Element
der Heiligkeit verschwinden. Und nie der Dank" (25.8.1957). Im August 1958
haben sich die Freunde zum letzten Mal gesehen, als Hirschberg, der kurz zuvor nach
Berlin zurückgekehrt war, nach Hamburg fuhr. |
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Till Böttger: Fritz Böttger und Otto Th. W. Stein unterhalten
sich über Kurt Hiller (S. 174-223) |
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Leipzig W33, am 6. Juni 1958
Mühligstr. 5
Mein hochverehrter lieber Freund!
Nehmen Sie meinen Dank für Ihren schönen Brief vom 21. Mai. Ich hoffe, daß
die Marées-Biographie und die Hiller-Rede inzwischen in Ihre Hände gelangten.
- Es gibt Rembrandt-Bücher, Riemenschneider-, Grünewald- und Dürer-Romane,
aber es gab noch kein Buch, das einen deutschen Maler des 19. Jahrhunderts - und was
für einen! - den breiten Massen auf so anziehende und volkstümliche Weise
zu Bewußtsein brachte. Nur so wird ein Künstler zu nationalem Besitz. Was
die Kunsthistoriker schreiben, bleibt ja doch mehr oder weniger esoterisch. Ich denke,
daß auch Sie an dem Buch ein klein wenig Freude haben.
Die Beziehung zu Hiller ist merkwürdig. Sie gleicht dem Verhältnis zu einer
kapriziösen Frau, zu einer Diva, die sich nur dann in ihrem Element fühlt,
wenn sie ihrem Freund ab und zu eine große Szene macht. Ihnen mutet seine negative
Einstellung zu Hegel sympathisch an. Das verstehe und akzeptiere ich. Was aber würden
Sie zu einem Kritiker sagen, der über einen Marées oder einen Stein herzieht,
ohne auch nur das Geringste von dieser Kunst zu begreifen? Ich kann Ihnen versichern,
daß Hiller von Hegel nur so viel versteht, wie ein Bauer oder Korpsstudent, der
zum ersten Male die Nase in ein philosophisches Buch steckt. Wer etwas bekämpfen
will, der muß es vor allen Dingen erst einmal kennen, sonst wird er zum Don Quijote,
der gegen Windmühlen ficht. An drei Beispielen habe ich H. nachgewiesen, daß
seine Zitate einen ganz anderen Sinn haben, als den, den er willkürlich unterlegte.
Diese Schulmeisterei hat ihn mächtig in Rage gebracht. Ich aber konnte über
den Schildbürgerstreich, daß sich zwei vernünftige Menschen über
den "Inhalt des Mastdarms eines Ruhrkranken" in die Haare gerieten, nur lachen.
Und mein Lachen hat ihn, wie er sich ausdrückt, "enthysterisiert"(!).
Die neueste Hilleriade lautet (auf die Andeutung, daß ich ein Manuskript über
Storm in petto habe):
Theodor Storm?
Mich beißt der Worm!
Dazu mußten wir wider die Rechten
In der Dichtung Jahrzehnte fechten,
Daß sie jetzt die Ultralinken
Ihren Schwarm als "Erbe" zinken!
Geistigkeit ist bürgerlich,
Dekadent, asphalten;
Kapitalsweltwürgerlich
Sind die Blubo-Alten!
Darauf konnte ich ihm nur antworten: "Sie wissen als Jurist, was ein Justizirrtum
und ein Fehlurteil ist. Storm wurde im Kontumaz zum Blubo-Alten' verurteilt.
Gott sei Dank hat ihn Thomas Mann, der hinsichtlich Blubo wohl unverdächtig ist,
von diesem Ludergeruch in seinem schönen Essay von 1930, enthalten in der Sammlung
Leiden und Größe der Meister', längst gereinigt. Ich aber eröffne
das Verfahren neu, finde den Angeklagten auch einer Reihe von Delikten schuldig, Blubo'
aber steht so außer jeder Wahrscheinlichkeit oder auch nur Möglichkeit,
daß diese Beschuldigung nicht einmal diskutiert werden kann. Sie gehört
der Storm-Legende an..."
Übrigens lebte Hiller, ehe er nach London ging, von 1934 bis zum Sturz von Bene
in Prag.
Die Beziehung wird, sofern sie dauert - und danach sieht es aus -, durch viele Krisen
laufen. Die Korrespondenz bildet den Kontrast zu der unseren, die immer so harmonisch
dahinperlte. Aber auch Atonalität und Zwölftonmusik kann ihre Reize haben.
Wer ist eigentlich der Feuilletonist Max Heller, der in der Liste, die Sie mir einmal
schickten, obenan steht?
Seinerzeit sandte mir Herr Forejt freundlicherweise den Zeitungsausschnitt über
den Besuch der Prager Journalistin Konarová bei dem Maler Stein. Ich habe
ihn mir übersetzen lassen und auch Frau Müller-Rau eine Abschrift zugehen
lassen. Leider fehlt mir das Datum und der Titel der Zeitung, in der die Reportage
erschien. Können Sie mir helfen?
Pfingsten verbrachten wir auf dem Kamm des mittleren Erzgebirges bei herrlichstem Wetter.
Ich fuhr extra vorweg, um im Chemnitzer Museum endlich einmal Ihre Bilder zu besichtigen.
Aber auch diesmal hatte ich wieder Pech. Bis auf die Maler des 19. Jahrhunderts war
alles ausgeräumt für eine Groß-Ausstellung aus Berlin "40 Jahre
revolutionäre sozialistische Kunst". Vor solchen "Notwendigkeiten"
müssen wir freilich kapitulieren.
Hatte ich schon berichtet, daß das Museum in Saarbrücken von dem Maler Heinrich
Waldmüller , an den Sie den schönen Brief richteten, den Marwitz in seinem
Ausstellungskatalog publizierte, ein Ölbild, ein Aquarell und eine große
Zeichnung erwarb? Ein schöner Erfolg für den Künstler und den Kunsthändler,
der an ihn glaubte. Leider zu spät.
Aber nun genug für heute. Wer weiß, was mir sonst noch so alles einfällt.
Gute und starke Lebenswünsche gehen zu Ihnen und viele, viele Grüße.
Herzlichst Ihr Fritz Böttger u. Familie.
Frýdlant v C. Smilovského 942
10.Juni 58
Mein lieber Freund!
Täuscht nicht alles, dann regt das "Es" sich wieder. Ich glaube das
Rascheln zu hören, und in den ersten Tagen dieses Monats könnte der Phönix
aus der Asche wieder aufsteigen. Das klingt ja sehr hochmütig, als ob es sich
um ein Gott weiß wer was handelte! Aber das soll ja nur ein Geständnis dem
Freunde sein, der so viel Anteil an mir nimmt und dessen ich mich nicht zu schämen
brauche, wie wenn ich berichtete: Ich war lange krank und lebe nun wieder. Die Neugierde
ist groß. Kann es im Alter Verlockenderes geben, als dem entgegenzusehen, was
unbekannte innere Kräfte an Wachstum noch hervorbringen: Ich glaube, so müsste
ein alter Baum, wenn er es könnte, denken, dem die Gewitter und Stürme des
Lebens tiefe Risse in den Stamm geschlagen und soviel große Äste abgebrochen
haben, und immer noch steht und weiß, dass er noch lebt, Blätter, Blüten
und Früchte hervorzubringen vermag! Mögen die Früchte auch klein sein,
wenn sie nur gut sind, erfüllen sie ihren Zweck. So dachte Goethe. -
Für Hans von Marées und Hillers Rede vielen Dank! Beides habe ich soeben
ausgelesen und das fordert einen neuen Brief heraus. Schon die erste Ausgabe 1947 Kuttner's
kannte ich, vergaß aber nach 11 Jahren fast alles. So war es jetzt für mich
ein neues Buch, das mir Anregung gab, über Kunst, Künstler, die Zeit und
ihr Publikum nachzudenken. Freilich kam dabei nichts heraus, das ich nicht schon wusste.
Dennoch ist die Beschäftigung mit dem größten deutschen Künstler
unserer Zeit und dem größten Mäcen aller Zeiten eine Quelle wichtigster
Erkenntnisse über das Problem Kunst überhaupt. Da ich als junger Maler der
einzige war, der von München, die dortige Biermalerei verlassend, oft nach Schleißheim
pilgerte, wo ich vor den erhabenen Werken stets allein nie einen anderen Besucher vorfand,
bezeugt dies schon mein besonderes Verhältnis zum Meister. Ein einziges Mal musste
ich das Schloß unverrichteterweise verlassen, da sich Meier-Graefe mit Marées
eingesperrt hatte. Von dem letzten Schüler Marées, Albert Leskien (ein
schwer kranker, 10 Jahre älterer Mensch, dessen deutscher Idealismus pathologisch
war, zudem er, bei höchstem Niveau, Jahre über Kunst nachdachte, ohne auch
nur die kleinste Skizze zu hinterlassen) erfuhr ich manches, das die Pidoll'sche Schrift
über Marées ergänzt. Durch meine Däubler-Frau, die den "Heiligen
von Karlsruhe" (wie er genannt wurde) nicht schmecken konnte, kam ich mit ihm
auseinander. Heute gibt mir Kuttners Buch Anlass zu mancher Kritik (aber anderer, als
sie das neue Vorwort des Verlags enthält, bei dem man merkt, woher der Wind weht!
Wo es aber eine "Lizenz" gibt, ist das eine quantité négligeable.)
Es gehört aber zu meinen Eigenschaften, dass ich einem Autor gegenüber, dem
ich Wertvolles verdanke, Kritik zu unterdrücken suche.
Die Rede Hiller's bestätigt mir, dass nur der parteilose Sozialist frei zu denken
und zu wirken vermag, der Korruption entgeht wie auch der Gefahr, zum Dogmatiker zu
werden, der die Idee ad absurdum führt und die Demokratie zur Despotie. Despotie
unterstützt nur das Anwachsen des heutigen intellektuellen Pöbels, der gefährlicher
ist als der gewöhnliche.
Leben Sie wohl, mein lieber Freund! Herzlichst Ihr Stein
1 Beilage
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Rüdiger Schütt: "Dass Sie mir unverlierbar gegenwärtig
sein werden, solange ich lebe ..." Hans Wollschlägers Briefwechsel mit Kurt
Hiller (S. 225-261) |
Sein Elitekonzept wollte Hiller auch mit dem 1956 gegründeten Neusozialistischen
Bund umsetzen. Die sich hauptsächlich aus Studenten und Künstlern zusammensetzende
Gruppe zählte zwischen 30 und 50 aktiven Mitgliedern, darunter der junge Dichter
Peter Rühmkorf und die Tänzerin Valeska Gert (1892-1978). Die beherrschende
Rolle Hillers und die Bezeichnung der Mitglieder als "Wissende", der Nichtmitglieder
als "Uneingeweihte" wirkt sektiererisch und irritierte so manchen Interessenten.
Der Bund war so eng an die Person Hillers geknüpft, daß er mit dem Tod seines
Vorsitzenden die Arbeit sofort einstellen mußte. "Lynx" fungierte als
Organ des Bundes. Hier erschienen in regelmäßigen Abständen die Aufrufe
und Thesen, die Erklärungen und Offenen Briefe. Hillers Bemühen, Wollschläger
für seinen Bund zu gewinnen, fruchtete nicht sofort. Zu stark mögen die Zweifel
an der Effizienz einer Gruppe gewesen sein, die prinzipiell aus nur Wenigen bestehen
konnte. Explizit führte Wollschläger seine Arbeitsüberlastung ins Feld
sowie weitere persönliche Gründe:
"Die Maximen des Neusozialistischen Bundes kenne ich in den wesentlichen Umrissen.
Allein, beitreten möchte ich nicht - aus freilich ganz unzureichenden Gründen
-: ich könnte, rein technisch', nicht mehr dafür tun, als ich auch
als Nicht-Mitglied tun könnte (denn ich muß von dem leben, was mir mein
Tipp-Finger einbringt, und habe einen 16-Stunden-Tag, um leben zu können); zweitens
bin ich, von meiner verfluchten Natur her, ein unaktiver' Mensch, der alle Konzentration
nötig hat, um seinem schwermütigen Temperament gelegentlich wenigstens im
Alleingang die Aktivität schriftlich verbreiteter Denk-Anträge abzugewinnen:
hier liegt meine Grenze. Der Rest ist Taktik': ich muß darauf sehen, daß
mir nicht um irgendeiner Gruppenzugehörigkeit willen von den wenigen, mir noch
offenstehenden Türen einige zuschlagen werden, die ich, mit List und Vorsicht,
offenhalten könnte; ich muß die Entscheidung darüber, welche Türen
ich mir um welcher Dinge willen zuschlage oder zuschlagen lasse, in ausschließlich
eigener Hand behalten... Ist das sehr abzulehnen?"
Brillant argumentierte Hiller so, daß sämtliche Bedenken Wollschlägers
sofort entkräftet wurden. Und tatsächlich gelang es ihm, den jungen Kollegen
zum Beitritt zu bewegen. Unter Hillers Argumentationsdruck mußte Wollschläger
kapitulieren: "So habe ich auch Stichhaltiges gegen Ihre Argumentation in Sachen
Beitritt zum Neusozialistischen Bund nicht denken können -: im Gegenteil, ich
muß Ihnen eigentlich in allem zustimmen."
Hans Wollschläger
Bamberg
Hohe-Kreuz-Str. 43
15-8-65
Sehr verehrter, lieber Herr Dr. Hiller,
daß der Tag, der zu den vielen Anlässen, Ihrer zu gedenken, einen sehr besonderen
fügt, hierzulande nicht breit und öffentlich (und, wenn's denn geistiger
nicht ginge, auch hierzulandes=gemäß feierlich') begangen wird, ist
tief erbitternd: wie für Sie auch für die Jenigen, die Wenigen, die einen
Begriff davon zu haben glauben, was die achtzig Jahre Ihres Da=Seins bedeuten. Es könnte
freilich, was so sichtbar ungerecht ist, zuletzt auch einer Art Gerechtigkeit genügen:
jener, die aller Mehrheit in diesem Lande untersagt, Sie als den ihren zu proklamieren,
zu kompromittieren -: in diesem Lande, das Ihnen so Schlechtes zufügte, wäre
es Anmaßung, sich nur mit flinken Lippen auf Sie zu berufen: Sie auch nur zu
loben, ist den Deutschen (und muß man die Deutschen nicht für "die
Schlechten" des Originals setzen?) auf einige Zeit noch nicht erlaubt...
Sich davon auszunehmen, sich zu den Wenigen zu zählen, auf die Sie zählen
können, wäre keine kleine Kühnheit also, und sie dürfte nicht gewagt
werden, käme nicht der Wunsch, Sie an diesem Tage Dankbarkeit und Verehrung wissen
zu lassen, dem Willen hinzu, mit der Mehrheit auch nicht das Schweigen gemein zu haben.
Es - dieser Mehrheit gegenüber - mit brechen zu helfen: es - öffentlich -
mit aussprechen zu helfen, was an diesem Tage gedacht zu werden hat: war mein Wunsch;
- seiner Erfüllung fehlte das Instrument (die Zeitung, der Sender), das mir Jene
vorenthalten, die nach alter Anweisung zum Seligen Leben nur den Ochsen, die da dreschen,
das Maul nicht verbinden.
So bleibt mir nur der Weg, Ihnen persönlich auf diese Weise anzudeuten, was man
mich öffentlich nicht sagen läßt... und vor der Fülle dessen,
was zu sagen wäre, finde ich es schwer. Wenn ein schlichtes Bekenntnis auf Ihre
Nachsicht rechnen dürfte, so ließe sich vieles damit ausdrücken: daß
ich von Ihnen - wie von Nietzsche - gelernt habe und immer wieder lerne, wie gegen
den stetigen Zweifel, ob es ein Fortschreiten gebe, fortzuschreiten ist; - daß
Ihre Gedanken, Ihre Thesen mir, dem ein schwarzgalliges Temperament den Kopf bei jedem
Versuchen tiefer zwischen die Nebel der Vergeblichkeiten drückt, stets notwendig,
ja selbsterhaltend waren und sind; - daß sie mir unverlierbar gegenwärtig
sein werden, solange ich lebe...
Ich möchte Ihnen Wünsche aussprechen und finde es schwer. Denn jenes "Glück"
der Formel, die der Bürger will, röche mir allzu all=gemein nach jener falschen,
erfailschten Eudaimonie : die nur der Bürger will. Ich weiß auch wohl zu
wenig von den Umständen, die Ihr Leben umgeben, es vielleicht schwer machen, als
daß ich so ganz einfach und ganz ohne Zögern Ihnen wünschen dürfte,
was wir - alle, die Ihnen zuhören - uns wünschen und erhoffen: Daß
Sie noch lange weiterleben mögen... So bliebe dies mein Wunsch: daß Ihr
Alter bis zum letzten Tag von physischem Elend frei bleibe - und daß Ihr Geist
über alle Tage hin, über jene Ewigkeit' hin, mit einzig der wir Agnostiker
rechnen dürfen, frei und lebendig bleibe: nicht nur in einem Pantheon seiner bloßen
Geschichte', sondern weitergereicht und erneuert in stetig neuen Geistern.
Seien Sie herzlich gegrüßt, in Dankbarkeit und Verehrung, von Ihrem
Immer ergebenen
Hans Wollschläger
Hamburg 31/X 68
Sehr geehrter Hans Wollschläger
soeben las ich Seite 48/49 in >Wer lehrt...< und fand mich breit, findig, aufs
geschickteste zitiert. Als ich schrieb, was Sie zitieren , war ich 35-36 Jahre alt;
ich sage heute Ja dazu, bis in die letzte Faser. Übrigens kontrastiert es herrlich
mit dem unmittelbar danach von Ihnen ausgestellten Supramist des liebenswürdigen
Gegenaufklärers, dem Sie Ihre sehr dankenswerte Studie gewidmet haben.
Unter den Theolügnern Hamburgs gibt es einen weniger bekannten, aber weit gerisseneren
und gefährlicheren als Thielicke ; das ist Hans Schomerus, Starmitarbeiter der
WELT; den sollten Sie sich mal vorknöpfen. Verderblich finde ich auch, dass der
(relativ verdienstvolle) Niemöller , just er, der >Friedensgesellschaft<
präsidiert - als ob ein ontologisch unhaltbarer Präses deontologisch Beachtliches
leisten könnte!
Vielmals grüßt
Ihr Kurt Hiller
Thanks to the Editors for forwarding!
KH
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