Auszüge aus dem Buch: Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft Band 2

Brigitte Laube: Kurt Hiller, der "Jüngst-Berliner" (S. 11-30)

Insgesamt ist Georg Simmel im hier beschriebenen Kontext zu sehen als seiner Zeit voraus in der Wahrnehmung der Moderne, in der Bereitschaft, daraus resultierende Empfindungen zu analysieren und zu thematisieren.
"Das Wesen der Moderne überhaupt ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unseres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüchtige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind."
Eine der Basisstrukturen expressionistischer Erlebnisqualität hatte damit eine präzise Definition erfahren.
Abseits der Großstadt Berlin, im von Beschaulichkeit geprägten Heidelberg, faßte Kurt Hiller das Lebensgefühl dieser neuen Qualität in den Text, dessen appellativer Charakter einer ganzen Literatengeneration ihren Namen geben würde.
"Wir sind Expressionisten! Es kommt uns wieder auf den Gehalt, das Wollen, das Ethos an." Mit diesen Worten aus seinem Essay Die Jüngst-Berliner hatte er den bislang lediglich für die Malerei gebräuchlichen Terminus für die Literatur adaptiert. Gleichzeitig war damit ein Programm, eine gemeinsame Blickrichtung für eine informelle Gruppe vorgegeben.
Auch wenn Hiller sich nach Jahrzehnten vom Fanal dieser eigenen Formulierungen distanzierte, als "einer Bezeichnung, die alles deckte, was sich seit 1910 von der litterarischen Konvention bis 1910 abhob, das Etikett ‚Expressionisten' [...] war ein provokatorischer Caféhaus- oder Atelierwitz, auch gar nicht für die Dauer gedacht," blieb er doch, auch aus der Perspektive der Nachgeborenen, wichtiger Teil des evolutionären Prozesses, den er angeschoben hatte.
Kurt Hiller "adoptierte" nicht nur die Philosopheme Nietzsches, er lebte auch auf dem Hintergrund der von Nietzsche formulierten lebensphilosophischen Maximimen ein genuin vitalistisches Seinskonzept: Vom beständigen "Ideelichen", der Gründung vitaler Gemeinschaften, deren Wirksamkeit sich zeigte in gelebter Dialektik, der fortwährenden Auseinandersetzung, wird das Werden neuer Formen für Gedanken, Sprache und Texte befördert.

Klaus Schuhmann: "Von A bis ZK" - Kurt Hiller als literatur- und zeitkritischer Alphabetisierer (S. 31-42)

Ist ein ABC-Dichter beim Buchstaben "Q" angelangt, entsteht hier meist mangels Wortmasse der erste Engpaß vor den Schlußklippen mit Y und Z. Hiller behilft sich damit, daß er nicht verbissen nach einem Terminus aus den Literaturgefilden sucht, sondern in die Umgangssprache hinabsteigt und für das später noch gebrauchte Wort Unsinn ein semantisch nahezu gleichwertiges requiriert:
Quatsch ist besonders dann beliebt,
Wenn er sich wissenschaftlich gibt.

Man sieht: eine alte Weisheit kann auch neu formuliert werden. Das gilt nicht weniger für einen aus der englischen Sprache importierten Personentyp, den Carl Sternheim in diesen Jahren auf die Bühne brachte:
Der Snob ist meistenteils sehr schlicht,
Er tut nur so, als wär er's nicht.

Daß Akademiker, die ein Jurastudium hinter sich haben und sich danach überwiegend schreibend dieser trockenen Materie anheimgeben mußten, ein Verlangen nach anderen Schriftstücken haben oder ihrer Begabung nach eher zum Schöngeist geboren sind, wird Hiller aus eigener Erfahrung bekannt gewesen sein, dem beim "Simplizissimus" arbeitenden Ludwig Thoma vergleichbar, der von Hause aus ebenfalls Jurist war. Und von Kurt Tucholskys Qualitäten als Rezensent hätte er sich wenige Jahre später ebenfalls überzeugen können.
Offenbar gab es neben diesen Könnern noch genug mindere Schreibbegabte, die Hiller zum Rezensenten vorbestimmt sah:
Zum Rezensenten vorbestallt
Ist der schöngeistige Rechtsanwalt.

Da beide Berufsbezeichnungen mit dem Buchstaben R beginnen, stellt sich eine geradezu kausale Verbindung zwischen ihnen her, die durch den vokalen Gleichklang an den Wortanfängen überdies unterstrichen wird.

Wolfgang Beutin: "Ich aber werde die Kraft haben, Sie nie mehr zu hassen...": Phasen einer schwierigen Beziehung - Kurt Hiller und Karl Kraus (S. 43-82)

Ausdruck der gewissen Wiederannäherung der beiden Autoren im letzten Lebensjahrzehnt von Karl Kraus war auch, daß dieser von Veröffentlichungen Hillers in der "Fackel" Notiz nahm und ihr Erscheinen anzeigte.
Das letzte Zeichen der Nähe beider bei Lebzeiten von Karl Kraus fällt in dessen Todesjahr 1936 (er starb am 12. Juni). Es ist eine Postkarte von Kurt Hiller aus Prag - er lebte damals seit knapp zwei Jahren im Exil in der Tschechoslowakei -. Auf der Vorderseite sieht man eine Photographie aus dem Jahre 1933, die den Präsidenten der tschechoslowakischen Republik am Schreib- oder Konferenztisch zeigt. Auf der Rückseite den Text Hillers :

Prag 20/III 36
Verehrter, lieber Karl Kraus!
Sie wissen, worin und warum ich abweiche. Jenseits von Meinungen muss ich, ich stürbe sonst, Ihnen sagen, mit welcher Herzenswonne, welch tiefer Lust ich ‚Wichtiges von Wichten' soeben gelesen habe. Die Antithese zwischen Edelmann und Schufterle bleibt mir wesentlicher als Gegensätze zwischen irgendwelchen Tendenzen oder Taktiken. Gewiss verstehen Sie heute, warum ich vor Jahren, diesen Zischbuben, der so lange mein Affe war, aus meinem Arbeitskreis ausschalten musste - Sie nahmen damals für ihn Partei. (Schadet nichts!)
Ich drücke Ihnen die Hand und wünsche Ihnen lange Fortdauer Ihrer Jugend. Herzlichst: Kurt Hiller

Dieser (Postkarten-)Text enthält aus heutiger Sicht eine Nuance von Tragik. Sie resultiert aus der Schlußformel "lange Fortdauer der Jugend". Zum Zeitpunkt, als die Karte den Empfänger erreichte, lag kein Vierteljahr Lebenszeit mehr vor ihm. Knappe zwei Wochen nach dem 20. März wird seine letzte große öffentliche Veranstaltung stattfinden, die siebenhundertste. Der von Hiller genannte Artikel erschien in der letzten Ausgabe der "Fackel", vom Februar 1936. Es ist darin der letzte Artikel. Mit ihm schloß die Arbeit von Kraus in der "Fackel", an ihr und mit ihr. (Dreimal die Aussage mit dem Adjektiv "letzt" …)
Ein Kennzeichen der Mitteilungen, vor allem des Briefs von 1913, mangelt auch der Postkarte wiederum nicht: der Vorwurf. Diesmal: Karl Kraus hat die Miserabilität eines, den er entlarvt, nicht zum selben Zeitpunkt erkannt wie der Absender, sondern noch zu dem Miserablen gehalten, als er von Hiller längst verstoßen worden war.

Klaus Täubert: Kurt Hillers Prager Rencontre mit Hermann Budzislawski (S. 84-106)

Am 17.8. '35 gratulieren vermittels Telegramm-Sendung "redaktion und administration der neuen weltbühne" ihrem Mitarbeiter zum "fuenfzigsten geburtstag". Entgegen solcher "Allerherzlich[keiten]" und dem Versprechen auf künftige Verfügbarkeit von "Raum" verzögert die NWB nun doch Hillers "großen Aufsatz" ("Dimitroff"), an welchem seinem Autor viel gelegen ist, um fast drei Wochen. Als er erscheint, ist der Bruch zwischen Hiller und dem "Zufallsdirigenten" Budzislawski noch einmal vermieden, so klar die Naht-Stelle sich auch abzuzeichnen beginnt. Hillers Aufsatz vorangestellt findet sich nun die Leser-Belehrung des Chefredakteurs, daß Autor K. H. sich nun auch "grundsätzlich zur Zusammenarbeit mit der Komintern [bekenne]. Freilich auf eine absonderliche Art, verbunden mit Polemiken und rechthaberischen historischen Hinweisen. Da es uns wichtig erscheint, auch die inneren Widerstände zu registrieren, die der selbstbewußte Intellektuelle seiner Eingliederung in eine unaufhaltsame Entwicklung entgegensetzt, veröffentlichen wir [ihn], eine gegebene Zusage erfüllend."
Die ursprünglich von Budzislawski abgelehnte Publikation - "Ich würde mich damit in die Front begeben, in die ich nicht hineingehöre" - hatte Hiller nach, wie er in den "Roten Rittern" schreibt, "aufreibenden Verhandlungen" noch einmal durchgesetzt. Nach Budzislawski bestand "der Konflikt, weil Sie die Weltbühnenpublikation im SOZIALDEMOKRATen konterkarierten", was Hiller, rhetorisch geschickt, von sich gewiesen hatte, gleichzeitig "Verwahrung" gegen die "Androhung, [...] bereits angenommene und gesetzte Beiträge von mir nicht zu bringen", äußernd. Immer wieder insistierend beruft er sich dabei auf wohl "nicht giltige mündliche", aber doch schließlich "Verträge", gar auf "private Ehren[worte]". In einem gehetzt verfaßten, mehrseitigen Brief durchstrichener und überschriebener Sätze befiehlt er Budzislawski schließlich nahezu: "Sie werden ‚Dimitroff' bringen und zwar in dieser Nummer, denn im andern Falle würden Sie wortbrüchig". Psychologisierend setzt er hinzu: "Einen Wortbruch zu begehen, bewußt, ist einem Manne wie Ihnen unmöglich" und suggeriert: "Als Sie vorgestern - im Zorn über die von mir stigmatisierten Böcke der Komintern [...] schrieben, es sei Ihnen ‚unmöglich', ‚Dimitroff' zu verteufeln, dachten Sie selbstverständlich nicht an Ihr gegebenes Wort. Ich erinnre Sie jetzt daran, und das genügt nicht. Übrigens würde die Unterdrückung eines an Stalin, Litwinow und Dimitroff orientierten, die leider noch machtvolle kommunistische Subalterne sanft geißelnden Aufsatzes sicherlich der weitverbreiteten Greuelnachricht Vorschub leisten, die ‚Neue Weltbühne' sei keine unabhängige, sondern eine von Kommunisten kontrollierte Zeitschrift -: ein Erfolg, den Sie ebenfalls unmöglich wünschen können." Nur sehr dürftig kaschiert hat Hiller hier zum ersten Male der eigenen Einschätzung vom Kurs der NWB das Wort gegeben.
In seiner Antwort vom 27. September weist "Budzi" nicht nur alle Anwürfe Hillers zurück, sondern beteuert auch noch einmal, "daß die Weltbühne von niemandem, also auch nicht von Kommunisten, kontrolliert" werde und bittet am Ende des Schreibens "von der Einreichung weiterer Manuskripte [in der nächsten Zeit] abzusehen."

Harald Lützenkirchen: Kurt Hillers Remigration von London nach Hamburg vor 50 Jahren (S. 107-116)

Die Rückkehr aus dem Exil hatte Hiller sicher gut getan und war ein notwendiger Schritt gewesen, um nicht völlig in Vergessenheit zu geraten. Die Zahl der in Hamburg und Umgebung neugewonnenen Freunde war beträchtlich, und für sie verkörperte er einen bedeutenden Zeitzeugen des 20. Jahrhunderts. Die Vortragsreisen und Lesungen in ganz Deutschland wären aus dem Exil heraus so nicht möglich gewesen, ebensowenig wie die Leitung des (in der Öffentlichkeit unbekannt gebliebenen) Neusozialistischen Bundes. Um 1970 herum konnte man den Namen "Kurt Hiller" in den (damals noch nennenswerten) Kulturteilen der Zeitungen unvergleichlich häufiger lesen als heute. Die Zahl der Rezensionen seiner Autobiographie, der Würdigungen zu seinem 85. Geburtstag 1970 und der Nachrufe zeugt von Hillers Bekanntheit zu Lebzeiten, zumindest im bundesdeutschen Kulturleben. Daß er nach seinem Tod fast völlig in Vergessenheit geriet, verdankt er zu einem wesentlichen Teil seiner Entscheidung, einen völlig inaktiven Germanisten zu seinem literarischen Rechtsnachfolger zu machen.
Hillers Spuren im heutigen Hamburg verblassen teils, wie seine Grabstelle auf dem Ohlsdorfer Friedhof (nur ein Grabstein mit dem Namen seines Freundes Walter Detlef Schultz existiert noch), während die Carl-von-Ossietzky-Universitätsbibliothek mit der Hiller-Ausstellung 1998 den äußeren Anlaß zur Gründung einer literarischen Kurt Hiller Gesellschaft bot. In Berlin gibt es inzwischen einen Kurt-Hiller-Park, während in Hamburg die Hallerstraße, in der Hiller wohnte, noch immer nicht ihr a in ein i verwandelt hat. Andererseits pflegt der Norddeutsche Rundfunk seine Radioaufnahmen mit Hiller, während die Aufnahmen Berliner Sender weitgehend verschollen sind. Zwischen Berlin und Hamburg oszillieren die Spuren Hillers, während die meisten seiner vielen Briefe in Marbach bei Stuttgart und in Frankfurt ihr Depositum fanden. Schicksal eines deutschen Publizisten, dessen Leben durch eine "Idiotokratie" durchschnitten wurde, gegen die er lebenslang angekämpft hatte. Sein hintergründiges Wirken besonders in den bewegten 60er-Jahren der Bundesrepublik muß noch untersucht werden, um den politischen Traum eines Exil-Rückkehrers im Nachkriegs-Deutschland bewerten zu können.

Dieter Schumacher: Freundschaft und Distanz. Begegnungen mit Kurt Hiller (S. 117-170)

Die Entscheidung fiel für München. Wir trafen uns freitagabends im Hotel Grunwald, hatten also das ganze Wochenende zur Verfügung. Da es schon spät war, blieben wir im Hotel. Kurt war ausgeglichen und heiter, er berichtete von den Untersuchungen in der Klinik, die Gefahr des Grünen Stars schien vorerst gebannt, allerdings mußte er weiterhin seine Augentropfen nehmen.
Ich bin Frühaufsteher, frühstückte am nächsten Morgen in aller Ruhe, las die Tageszeitung und wartete und wartete. Ich wurde ungeduldig. Um halb elf erschien Kurt, und er bekam noch sein Frühstück. Wir sprachen über die wenigen Sachen, die ich in "Lynx" und "WISO" (Agartz) veröffentlicht hatte. Kurt lobte, verschwieg aber seine Einwände nicht, hier blieb er konsequent. Er machte mich auf die Schwächen aufmerksam, die, wie er es charmant nannte, nur "tertiärer", ja "sextärer" Natur seien. Er übertrieb auch in seiner Nachsicht, um mich nicht zu verletzen, half als väterlicher Freund, zeigte mir Möglichkeiten, die Schwachstellen zu vermeiden und meinen Stil zu verbessern. Für den frühen Nachmittag hatte Kurt die Zusammenkunft mit Sassens arrangiert. Der vorangegangene Streit mit den Contra-Herausgebern, der sich im Februar 61 an den eingestreuten Graphiken von Heft 10 entzündet hatte, war zunächst beigelegt worden. Hiller hatte der Redaktion 2 Beiträge zur Verfügung gestellt, und ohne Absprache und sein Wissen enthielt die Ausgabe graphische Unterbrechungen in seinen Texten. Es ging vor allem um den Aufsatz "Begriffsverwirrer", in dem Hiller Heines unsterbliche Verse vom "Eiapopeia" des Himmels zitiert hatte. Das für Hiller gräßliche "Gekritzel" zwischen den Heinezeilen hatte einen spontanen Entrüstungsbrief an Hans-Werner Saß zur Folge, worauf dieser Hillers Kritik als "Professorengekeif" (18.3.61) zurückwies. Mich hatte gewundert, daß Kurt nicht gleich "explodierte". Susanne Saß hatte es verstanden, den Zorn zu löschen und Hiller zu beruhigen, sie entschuldigte sich, die Graphik sei aus Versehen durch den Drucker hineingeraten. Hiller kommentierte diese Entschuldigung: "Umso schlimmer! Eine Redaktion, die den Druck ihrer Hefte ohne Aufsicht dem Druckerich überläßt! Welch ein Mount Everest der Schlawinerei! Der selige Siegfried Jacobsohn fuhr jede Woche nach Potsdam, um in der dort befindlichen WELTBÜHNEndruckerei die Ausdruckung der Nummer persönlich zu überwachen. Ossietzky tat anfangs desgleichen, später schickte er immerhin nach Potsdam entweder seine ‚rechte Hand' Arnheim oder seine linke Hand Karsch oder beide Hände. Sogar Budzi in Prag überwachte die Ausdruckung persönlich. Unterredungen zwischen ihm und mir fanden manchmal in der Druckerei statt. Das kernhaft Ärgerliche am Contra bleibt sein dilettantisch-zigeunerischer Zug. (Das Erfreuliche ... ich überseh' es mitnichten.)" (29.3.61) Ich nahm den graphischen Teil von Contra auch nicht gerade begeistert auf und empfand die Vorgehensweise von Saß gegenüber Hiller unhöflich und arrogant, hielt mich aber mit dem Urteil zurück. Zur inhaltlichen Qualität der Zeitschrift, zu dem, was sie künstlerisch und philosophisch anregen wolle, meinte Kurt: "Das Verständnis für Philosophie und für die unterschiedlichen Künste hängt - im Gegensatz zum Verständnis für Wissenschaften: etwa Ägyptologie, etwa Handelsrecht, etwa Kirchengeschichte, etwa Zahnheilkunde, etwa Physik - nicht vom Fachstudium und Wissen ab, sondern vom mentalen Niveau des Menschen, seinem Seelenbau, seinem geistigen Rang, seiner Konstitution, seiner Struktur oder wie Du das nennen magst." (29.3.61)
Das Ehepaar Saß war pünktlich, ich hatte etwas Sorge vor einem möglichen Ausbruch Hillers, doch meine Sorge blieb unbegründet, es flammte kein Streit auf, es ging lebhaft und heiter zu. Kurt schwärmte für die blonde Susanne, sie war charmant und sehr diplomatisch, sie umgarnte den Hitzkopf, wenn auch nur vorübergehend. Die Aussprache drehte sich hauptsächlich um Contra, um die inhaltliche Gestaltung und das Problem der Finanzierung. Im Laufe des Nachmittags kam noch der Maler und Karikaturist Günther Strupp hinzu, der gelegentlich an Contra mitarbeitete.
Abends waren Kurt und ich wieder allein, nach dem Essen verabschiedete ich mich und eilte zu einer Verabredung mit Freunden, die in München studierten. Es wurde spät in Schwabing, dadurch verschob sich mein Frühstück am nächsten Morgen, gleichzeitig verkürzte sich die Wartezeit auf Kurt. Das herrliche Wetter lockte nach draußen und führte uns in den Tierpark Hellabrunn. Kurt erzählte von seinen Beziehungen zu Tieren, die er später zum Teil in seiner Autobiographie geschildert hat. Die ausgiebige Wanderung und die gedanklichen Ausflüge in die Gefilde der Philosophie hatten ihn müde gemacht, dazu kam die sommerliche Wärme. Wir setzten uns auf eine schattige Bank, Kurt nickte ein und schlief ein halbes Stündchen. Danach war er wieder munter, und wir setzten unseren Gang fort. Schließlich landeten wir bei den "rückgezüchteten Auerochsen". Der Auerochse ist der Urahn des heutigen Hausrinds. Wir verweilten lange vor dem Gehege, betrachteten die mächtigen Körper und staunten über den Rückzüchtungserfolg. "Ochse" und "Rindvieh" sind beliebte Worte, die wir gerne Mitmenschen, die unseren Ärger provozieren, an den "Kopf werfen". Warum nicht mal etwas Neues, etwa "rückgezüchteter Auerochse"? Wir entschuldigten uns bei den stattlichen Tieren, einigten uns aber schmunzelnd auf das neue Schimpfwort, um es in Zukunft zu verwenden. Unsere entfesselte Phantasie entwarf ein Gehege für Exemplare der menschlichen Spezies, denen unsere Verachtung galt, und die wir dem Spott und Gelächter der Öffentlichkeit preisgeben wollten. Wir suchten aus der großen Arena der Überschätzten nach geeigneten Kandidaten, um ihnen den Titel "rückgezüchteter Auerochse" zu verleihen. Jede Verleihung wurde mit einer ordentlichen Lachsalve quittiert. Daß unser Spiel nicht einmal vor dem "Geist" Hegels halt machte, daß wir posthum diesen "großen Philosophen" mit dem Titel ehrten, um seinem Ansehen gerecht zu werden, wird keinen Hiller-Kenner wundern.
Wir verabschiedeten uns abends in der Gewißheit, daß das Hellabrunn-Erlebnis der Höhepunkt unserer Münchner Begegnung war. Kurt reiste am nächsten Morgen zu Burckhardts nach Unterwössen. Sein Kurzbericht:
"Meine Unterwösse war charmant; herrliches Wetter plus stark verbesserter Physiozustand beider Burckhardts. Der accent aigu meiner Reise bleiben aber doch die rückgezüchteten Auerochsen von Hellabrunn." (17.7.61)

Jürgen Busack: Vom Matterhorn über Bayerische Almen zu den Mühen der Holsteinischen Ebene; oder: Kurt Hiller und die Deutsche Sozialdemokratie - erinnert am Fallbeispiel Waldemar von Knoeringens (S. 172-200)

Am 1.5.1957 Mitglied der SPD geworden, war ich in den ersten Jahren danach zum Glück schlicht unwissend und hatte innerparteiliche Verkrustungen als Abkehr von Diskussionsbereitschaft 1958/59 erst in Anfängen in Lübeck jugendlich unbedarft kennengelernt. Zusammen mit anderen Lübecker Jungsozialisten und im Gegensatz zur rechten Bundesführung der Jusos schöpften wir aus unserer blauäugigen Unkenntnis und naiven Unbedarftheit den Schwung, die Kraft und Zuversicht, nicht allein der SPD in Lübeck, sondern wenigstens auch der in Schleswig-Holstein "unsere" Themen (in Außenpolitik, Gesellschaftspolitik) und eine reale innerparteiliche Diskussion über unsere Ziele erfolgreich aufzwingen zu können.
Vor diesem Hintergrund ist der folgende Brief zu lesen, den ich am 8.6.1959 Kurt Hiller sandte - wenige Monate vor der "Verabschiedung" des neuen, Godesberger Grundsatzprogramms der SPD (13. bis 15.11.1959 / mit 16 Gegenstimmen bei 394 anwesenden Delegierten). Ein Jahr später in einer außenpolitischen Debatte des Deutschen Bundestages stellte Herbert Wehner, als vermeintlich linker Flügelmann fernab aller innerparteilichen Willensbildung die Gegenstandslosigkeit des SPD-Deutschlandplanes fest, der eine Konföderation beider deutscher Staaten anvisierte. Zwei Jahre später, 1961, begann ich meinen fast einjährigen Versuch, von Lübeck aus eine linkssozialistische Gruppe für Schleswig-Holstein und Hamburg aufzubauen - mit der Option, sie als eine zielorientiert-programmklare Formation in eine entsprechende neue Bundespartei einzubringen. Der weitere Lebensweg der meisten der etwa 20 meist jungen Teilnehmer seitdem hat mir verdeutlicht, wie stark sich persönliche Berufs- und Studieninteressen auf ein weitergehendes Engagement bremsend ausgewirkt haben. Ich will dies nicht einseitig disqualifizieren; im sicheren Hafen der Beamtenbesoldung sollte man da vorsichtig sein.
Ich schrieb also aus Lübeck im Juni 1959

"Lieber Kurt,
ich übersende Dir das meines Erachtens großartige Referat Waldemar v. Knoeringens, den ich bisher unterschätzt habe. Er ist heute eine meiner Hoffnungen für die SPD. Noch steht er ziemlich isoliert ...; hoffentlich in den nächsten Jahrzehnten nicht mehr. Er ist nur im Parteitriumvirat zwischen dem Hausbackenen rechts und dem Scheinlinken links das Zukunftskind in der radikalen Mitte.
Mit der Bitte um Rückgabe
Dein Jürgen"

Es ging um die Rede Waldemar v. Knoeringens auf dem Stuttgarter Parteitag (vom 18. bis 23. Mai 1958) "Sozialismus - gelebter Humanismus". Dort stieg Herbert Wehner zum zweiten stellvertretenden Parteivorsitzenden auf, galt als vieldeutiger Wortführer der parteiinternen Linken. Ich qualifizierte ihn als Scheinlinken. Mit dem Hausbackenen im Triumvirat meinte ich Erich Ollenhauer. In der Kurt Hiller zugesandten Broschüre war zudem die Rede des SPD-Kronjuristen Adolf Arndt "Das Bild vom modernen Menschen" auf dem gleichen Parteitag abgedruckt, eine Persönlichkeit, die ich heute in der Summe ihres geistigen Wirkens und ihrer philosophischen Fundierung dessen, was demokratischer Sozialismus sein sollte, weitaus positiver sehe - bei allen Vorbehalten gegen kirchelnde Sozialdemokraten, insbesondere der katholisch-autokratischen Seite.
Die Antwort von Kurt Hiller folgte prompt drei Tage später aus Mainz und führte mich zu einer nachhaltigen inneren Krise der Freundschaft, zu ersten grundsätzlichen Zweifeln am logokratischen Konstrukt einer revolutionierenden Verfassungsreform. Einerseits fühlte ich, wie mich jemand ernst nahm, auf sehr verbindlich freundschaftliche Art; andererseits sah er in mir, so spürte ich mehr als ich las, den jugendlichen Trottel, "der krank gewesen sein muß", als mir DAS imponierte; so las ich es auf einem der vielen Zettel, die er der mir zurückgesandten Broschüre außergewöhnlich arbeitsaufwendig beigefügt hatte: "S. 21, oben. Fast schäme ich mich für Waldemar. Lauter leere klischeehafte Behauptungen, ohne Spur eines Versuchs der Begründung. Was? Fritz Ebert +, Spaak, Saragat, Nau und Mollet ‚weisen in die Zukunft', nicht dagegen Lenin, Tito und Mao? Du mußt KRANK gewesen sein, Jürgen, als Dir Das imponierte." W. v. Kn. hatte gesagt: Wir müssen sie [die Kommunisten] zur Auseinandersetzung herausfordern, denn den Sozialismus, der in die Zukunft weist, vertreten nicht sie, sondern den vertreten wir. Aber es gibt eine Einschränkung: Wir müssen wissen, was demokratischer Sozialismus ist." Das Parteitagsprotokoll vermerkt die Zwischenrufe: Sehr richtig! W. v. Kn. wollte, so sah ich es, der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus eine "neue Note geben". Zuvor formulierte er das Ziel sozialer Gerechtigkeit gegen wachsende Ungleichheit und steigende Rüstungsausgaben, und er warnte, heute wissen's wir, seiner Zeit weit voraus: "Dann werden wir veraltete und unbrauchbare Atomraketen haben. Die Menschen aber, die im nichtmilitärischen Raum Träger unserer Kraft sein könnten, werden fehlen. (Beifall.)" Und: Wir sollten keine Hemmungen haben, mit den Kommunisten auch einmal eine Nacht zu diskutieren. Ich habe das öfters getan. (Lebhafter Beifall.)" Hierzu KH: "S. 20, unten, unsagbar flaches und langweiliges Demokratengeschwätz. ‚Die guten Argumente des demokratischen Sozialismus' - er frißt sie zwar, aber nennt sie nicht. Billiges Gestümper eines Erzdilettanten der politischen Theorie."
Mich machten diese provozierenden, polemischen Zettelaperçus zunächst ebenso hilflos wie wütend. Wollte KH neue Töne, gemessen am SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher, noch sieben Jahre zuvor, nicht hören, neue Töne einer sachlichen Gegnerschaft zu Kommunisten anstatt ausgrenzender Feindseligkeit?

Martin Klaußner: Kurt Hiller zwischen "Logos" und "Eros". Einige Anmerkungen (S. 201-274)

"Gröberer Sexus", was heißt das schon und was weiß der sexuell unerwachsene Kurt Hiller vom "gröberen" Sexus eines nicht neuropathischen Mannes? Er hat "gröberen Sexus" niemals praktiziert und erlebt; nichts weiß er, sowenig wie er seine eigne Sexualität hinterfragt, ob sie nicht Züge massiver Störungen aufweise, warum er diese Trennung von Liebe und Sexualität vornimmt, weshalb er, lange und weitgehend unfähig zu echter Liebe, Ersatzhandlungen und "feinere Eros"-Phantasien vorzieht. Warum es eines speziellen "Eros" bedarf, der jenseits gesunder Sexualität aus Übertragungen, Idealisierungen, Projektionen besteht, und Liebe nicht genügt. Nichts von all dem fragt er sich je. In hypertrophen Übertragungen versteckt er seine Sehnsucht, geliebt zu werden, türmt zur Kennzeichnung seiner idealisierten Objekte hymnisch Kaskaden von Superlativismen auf sie. Von "unbeschreiblicher Schönheit" sind sie, "Ereignisse", von "großer Gestaltungsmacht" und "Geistigkeit", "Inbild des Adels", "prinzlich gar", "Ehrfurcht" erfüllt ihn, er kann zu ihnen "aufblicken", "einen unsichtbaren Tempel der Verehrung" um sie bauen; in seiner Bereitschaft, zu "dienen", in die "Knie zu sinken", "gehorsam" zu folgen steckt der unbewußte Wunsch, penetriert zu werden; die Bewunderung und Überschätzung ihrer körperlichen "Schönheit" grenzt an Fetischismus und ist die unbewußte Umkehr der Ablehnung eigner Körperlichkeit, Ablehnung des "leicht angeslawten" Vaters, der durch muskulöse, schlanke Polyklet-Typen ersetzt wird, während sich die ibero-araboide Mutter in den südländischen Mittelmeer-Schönheiten wiederfindet.
Seinem "physischen Trieb" huldigt er in Prag angeblich nur noch zweimal "auf inferiore Art" (E 149), wobei er jedesmal bestohlen wird, und ab 1937 schließt er (bis auf eine einzige, viel spätere "Ausnahme, die kaum rechnet, weil das Abenteuer infolge Betrugs mißglückte") (E 149) laut eigner Aussage den Tempel des "Eros pandemos". In seinen "Eros"-Aufzeichnungen berichtet er nicht, wie er damit zurecht kam, welche psychisch-emotionalen Veränderungen sich als Folge davon ergaben, sondern ergeht sich in weiteren Darstellungen dessen, was ihm sein Freund Walter bedeutet, in biographischen Anmerkungen, Erörterungen zum Thema Homosexualität und endet mit dem frühen Tod Walters, der 1964 an einem Herzinfarkt stirbt. Der Schmerz um den jähen Tod Walters ist "einer der Gründe, weshalb ich von Ereignissen meines Innenlebens seit jenem August 1964 in diesem Buch schweige". Für Kurt Hiller etwas ungewöhnlich, daß er die anderen, vorhandenen Gründe nicht offenlegt, und so fragt sich, was er bewußt verschweigt, unterdrückt bzw. verdrängt. Die folgenden mehr als 30 Jahre seines Lebens nach 1937 handelt er im "Eros"-Band, seinen sonstigen Gepflogenheiten entgegen, wo "der Zusammenhang verbietet", Fakten zu verschweigen, er "zu gestehen hat" oder "nicht vergessen zu erwähnen möchte ich", kurz und kursorisch ab und ergeht sich stattdessen aufs egozentrischste in Beschimpfungen von Kritikern: "Vollnulpe" (E 161), "weil für die Züchtigung [...] selbst die Hundepeitsche zu schade wäre" (E 161), "Lümmelei", "Seich", "Knote", "schmierige[r] Pinsel", "Dummheit", "Lüge", "Denunziation". Zwischen der in dieser Sprache offenbarten Mentalität und dem von Hiller scharf abgelehnten "gröberen Sexus" klafft keine große Lücke; nicht umsonst verweist ein Kritiker auf Hillers "anal besetzte Metaphern" (Joachim Günther im "Tagesspiegel" Berlin 17. 8. 1965). Hillers Logos wird in seinen paranoid-narzißtischen Ausfällen gegen Kritik und Kritiker wieder in einem erheblichen Ausmaß von seinem unterdrückten Triebhaushalt unterlaufen.

Till Böttger: Sommer 1972 - die letzten Monate im Briefwechsel zwischen Kurt Hiller und Fritz Böttger (S. 276-300)

Hamburg 28/VII 72
Lieber Freund Böttger -
Dank für 23/VII, mit den extra hübschen Marken. Was die Drucke anlangt, so hat Elm zwar im Kern recht, aber er fälscht Geschichte, indem er Mitglieder eines klerikal=konservativen Kreises dauernd als Rechtsradikale und Rechtsextremisten (also Nazis) etikettiert, während das nur auf eine kleine Minderheit des Kreises zutrifft, z.B. Mohler . Emil Franzel blieb auch nach seiner Trennung von der Sozialdemokratie eindeutig Antinazi; und Ziesel , als Jüngling Nazi, hat sich schon vor rund 20 Jahren durch einen projüdischen Roman, später expressis verbis von seiner Jugendsünde getrennt. Die Beispiele ließen sich vermehren. Eine Pampelmuse (Grape fruit) ist zwar eine Citrusfrucht, aber keine Zitrone; ein homo sapiens zwar Säugetier aber nicht Affe; ein Notzüchtler zwar Delinquent, aber nicht Mörder.
>Der exemplarische Fall Gingold< greift ans Herz, aber der Knabe Don Carlebach verschweigt fast, via Stilistik, dass Gingold völkerrechtlich keine Sekunde seines Lebens Deutscher war, sondern erst Pole, dann Staatenlos, und dass der Innenminister zwar berechtigt, aber keineswegs gesetzlich verpflichtet ist, Nichtdeutsche, die dies ständig waren, einzubürgern. Ich als Innenminister würde Gingold vermutlich eingebürgert haben; ich bin (aus ganz anderen Gründen) das genaue Gegenteil eines Genscherverehrers ; aber unter Berufung auf irgendein Gesetz Genschern zwingen, jemanden einzubürgern, der nie Deutscher war, - völlig unmöglich! Der Knabe Don Carlebach etabliert sich hier als Demagoge. Sein Raffinement riecht.
Nach einem Artikel unseres Grundgesetzes hat ANSPRUCH auf Einbürgerung der Deutsche, der vom Nazigeschmeiss aus politischem, rassischem oder religiösem Grund zwischen 1933 und 45 "ausgebürgert" worden war. Er braucht nicht zu bitten, er darf fordern. Mit diesem Casus hat der Fall Gingold nichts zu tun.
Was Alfredos Biographie betrifft, so halte ich es für ausgeschlossen, dass er jemals Chefredakteur der >Monde< in Paris war; und dass er sich mehrere Jahre lang vor 1933 in Berlin aufgehalten und zu den Mitarbeitern der Presse seiner Partei gehört haben soll, ist mir in hohem Grade zweifelhaft. Wenn, das hätte ich, der ich damals in Berlin lebte und mich dauernd mit jener Presse beschäftigte und herumschlug, WISSEN müssen. Niemals fiel sein Name, niemals kam er in jenen Zeitschriften und Zeitungen vor. Ich glaube von dem allen kein Wort. Jemand dichtete eine Legende. Da die Zeugen aus jener Zeit grossenteils tot oder in alle Winde zerstreut sind, ist die Produktion solcher Legenden risikolos.
Reisen? Gewiss! ZB durch Mussolini's Italien. Aber seine "zweite Heimat" war seit 1919 un=unterbrochen ... Tills Studienstadt. Das wussten wir alle.
Die Hitze hier war fürchterlich. Mir geht es gesundheitlich nicht gut. Zwar befriedigen Augen und Herz; aber ich leide an schweren Magenschmerzen und, sobald ich liege, Nervenschmerzen im linken Unterschenkel - die den Schlaf töten. Ich leide seit etwa zwei Monaten an Mosaikschlaf (3 bis 5 Stücke allnächtlich, die meisten im Lehnstuhl, weil die Beine dann senkrecht sind, daher der Blutkreislauf leichter). Die Ursache der sehr schmerzhaften Magenauftreibungen ist mir einstweilen unbekannt. Ich schrecke vor Konsultation eines Internisten zurück, weil ich zweimal, 1966 und 70, grauenhafte Erfahrungen mit Angehörigen dieses Gewerbes gemacht habe; erst in Mainz, dann in Hamburg. Ende 1970 tötete ein ignoranter Internist mich fast, dadurch dass er mir eine um 100 % zu starke Droge verordnete. Mein Retter war ein höchst erfahrener und menschlich feiner Apotheker. Vertrauen hab' ich a) zu ihm, b) zu meinem Augenprofessor, c) zu meinem Beinarzt und seiner ihm assistierenden Frau, die gleichfalls Ärztin ist.
Was die Internisten anlangt: die sind nicht spezialisiert genug, ihre Materie ist ja viel zu umfangreich; und sind sie's, dann versteht der Herzspezialist nix von Magen/Darm und der Verdauungsspezialist noch weniger als nix vom Herzen. Ich spiele nicht gern Hasard!

Sehr herzliche Grüsse und Wünsche Ihres Kurt Hiller


Lpzg 5/VIII 1972
My dear doctor:
Die Tage mit den tropischen Temperaturen sind glücklicherweise vorüber. Ich hoffe, daß die jetzt wehende kühle Meeresluft auch Ihnen Erleichterung bringt. Der "Mosaikschlaf" sollte Sie nicht zu nutzloser Grübelei verführen. Wer sagt denn, daß das, was wir als Kinder so gut gekonnt haben, nämlich abends nach dem Hinlegen tief einzuschlafen und acht oder zehn Stunden bis zum Morgen durchzuschlafen, das einzig Wahre für den homo sapiens sei? Die Mönche des Mittelalters, die wahrlich nicht die Dümmsten waren, die damals lebten, hatten sich den Mosaikschlaf zum Prinzip gemacht. Sie wurden alle zwei Stunden zu Gebet, Andacht oder Meditation geweckt und befanden sich dabei in bestens trainierter Verfassung. Und ob liegend oder im Lehnstuhl, auch das scheint mir irrelevant. Die Schwäne schlafen im Fluge! Auch da sollten wir uns nicht allzu sehr von konventionellen Vorstellungen beherrschen lassen. Vielleicht ist der Aufbruch zum Paradies überhaupt nicht mit "Dauerschlaf" zu erreichen, sondern nur mit "Mosaik". Und in Ihrem speziellen Falle erscheint mir der Schlaf in Raten überhaupt wie eine weise Vorsichtsmaßregel der Natur. Ich befürchte nämlich, daß beim Tiefschlaf sie möglicherweise gar nicht wieder aufwachen würden. Und das wäre für uns alle doch sehr sehr schade.
An die Internisten glaube ich so wenig wie Sie, und zum Schlucken einer Magensonde, was schon immer eine Pferdekur war, sind Sie nervlich einfach nicht robust genug. Eher könnte ich da schon zu einem weisen, chinesischen Volksmediziner raten, der die Akupunktur beherrscht, eine uralte, in China entwickelte Methode, durch Einstiche mit silbernen Nadeln an genau vorgeschriebenen Stellen der Haut eine Krankheit zu behandeln, wobei man auch gerade mit der Heilung von Magenerkrankungen große Erfolge erzielte. Wenn Sie das interessiert, dann lassen Sie sich einmal das Januarheft der "Naturwissenschaftlichen Rundschau" vom laufenden Jahrgang 1972 besorgen.
Die Biographie Alfredos, von der Sie schreiben, daß Sie kein Wort davon glauben, erscheint auch mir höchst dubiös. Darin lag ja das Motiv, Ihnen die Sache einmal vorzutragen. Nur muß ich nach Kenntnis der hier üblichen Praktiken annehmen, daß Genosse Angerer diese Legende selbst dichtete. Warum? Das ist eben die Frage. Vielleicht weil er sich seiner Option von 1919 nachträglich schämte? Vielleicht weil es seinem wiederentdeckten Patriotismus widersprach? Vielleicht weil das eine ultralinke Abweichung von der später verbindlichen "Linie" war? Nur ein Abtrünniger konnte ja seinen Posten als Soldat der Revolution in Deutschland so leichtfertig verlassen und den Kampf gegen den Faschismus anderen überlassen. Warum kehrte er denn überhaupt erst mit neunjähriger Verspätung (1954) nach Deutschland heim? Vielleicht weil er auch 1945 noch immer Deutschland gar nicht als seine Heimat betrachtete? Seltsam, seltsam. Diese Manipulation hat ihre Gründe!
Was Ihre Monierung der mangelhaften Unterscheidung gegenüber dem klerikal-konservativen Klüngel anbetrifft, so stimme ich Ihnen ohne Einschränkung zu. Sie schreiben sehr instruktiv: "ein Notzüchter ist zwar ein Delinquent, aber nicht Mörder." Aber besteht nicht die hohe Wahrscheinlichkeit, daß im Ernstfall sich der Notzüchter doch an die Seite der Mörder stellt? Schon Metternich äußerte als politische Erfahrungsweisheit: "Man fällt, wohin man neigt." Solches muß man leider befürchten, und insofern hat die mangelhafte Differenzierung auch wieder ein moralisches Recht. Ist z.B. Franz Josef Strauß ein Klerikalkonservativer, ein Rechtsradikaler oder ein Rechtsextremist? Ich weiß es nicht. Aber so viel ahne ich, an wessen Seite er im Falle einer auf Antikommunismus getrimmten neofaschistischen Diktatur zu finden wäre. Diese mag im Augenblick nicht zur realen Diskussion stehen. Daß man aber überall, wenn es nicht mehr anders geht, dazu als ultima ratio entschlossen ist - von den griechischen Generälen bis zu Pompidou und Nixon - ist für mich sonnenklar. Auch Gentleman Schröder wird da mit von der Partie sein, mindestens in einer Papen-Rolle . Gewiß, Papen war nicht Hitler, und vielleicht war er nichts weiter als ein ganz gewöhnlicher Reaktionär. Aber es scheint mir mindestens publizistisch erlaubt, diesen "Vizekanzler" des Raubaffen einen ganz gemeinen Faschisten zu nennen. Und was heißt in solchen Fällen, sich von seinen "Jugendsünden" trennen? Es ist ein psychologisches Gesetz, daß je älter man wird, man umso geneigter ist, zu seinen ersten "amouren" zurückzukehren! Diese Leute von Strauß bis Schröder, von Ahlers bis Ziesel geben alle keine innere Garantie. Die wollen dann alle wieder mithelfen, das Schlimmste zu verhüten, und machen es dadurch gerade erst möglich. Nun hoffen wir erst einmal darauf, daß ihnen die nächste Bundestagswahl einen dicken Strich durch ihre Rechnung macht.
Bruno aus Wien sieht auch Hoffnung für Frankreich (vgl. beiliegenden Aufsatz!). Ich zwar nicht. Aber sich Linksregierungen in Frankreich und Italien vorstellen, ist für einen in politicis zur Schadenfreude neigenden Zeitgenossen wie mich mindestens eine ergötzliche Perspektive für den Mosaikschlaf.

Mit allen guten Wünschen und sehr herzlichem Gruß Ihr FB

NB: Eben denke ich daran: Die Europäer, die in den Tropen leben, regulieren alle Verdauungsschwierigkeiten mit Papaya . Das wäre auch etwas für Sie, wie überhaupt alle tropischen Früchte dem Magen dienlich sind. Na und dann Getreideschleimsuppen, Kartoffelbrei, Möhrensaft, Roterübensaft und Kamillentee. Sie benötigten jetzt eine Haushälterin mit den Fähigkeiten einer Diätassistentin.