Auszüge aus dem Buch: Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft Band 1

Thomas Bleitner: Golo Gangi und der "soziologische Schlacht-Ochse". Über Erwin Loewenson und Kurt Hiller (S. 11-24)

Schon sehr früh, noch während der Gründungsphase des Neuen Clubs, bezeichnete Loewenson seinen Freund Hiller unter anderem abschätzig als "soziologischen Schlacht-Ochsen", als "Dr. Gorilla", und unterstellte ihm ein oberflächlich-tendenziöses Querdenken aus Prinzip: "Polemik-Blicke in unstandesgleiche Kehrichte überlasse man Hiller und den Hilleriden, die in ihrem Denken fast vollkommen abhängig sind vom Gegenteil der Übrigen: so daß es meist [...] sehr einfach ableitbar ist", lästert Loewenson in einem Brief an Erich Unger vom 25. Juli 1909. - Hiller seinerseits kritisierte Loewenson wiederholt wegen dessen Hang zum Metaphysischen, belächelte die vergleichsweise verhaltene schriftstellerische Produktivität des Freundes und beanstandete seine vorgebliche Unfähigkeit zu eindeutigen literaturethischen Stellungnahmen. So äußert Hiller z.B. in einem Brief an Loewenson ganz unbefangen seine Verwunderung darüber, daß dieser es tatsächlich geschafft habe, ein quantitativ so beachtliches Gedicht wie Der Totentanz des Anatom zustande zu bringen; ein Gedicht, das Hiller inhaltlich im gleichen Atemzuge (zumindest partiell) als groben Unfug abtat.

Harald Lützenkirchen: Die "Ziel"-Jahrbücher, Manifeste des Aktivismus (S. 25-73)

Zu den umstrittenen Merkmalen des "Ästhetentums" gehört es, den Weg über das Ziel zu stellen bzw. die Form über den Inhalt. Eine Vertreterin dieser Richtung ist Anna Siemsen (Pseudonym: Friedrich Mark), die proklamiert: "Wichtiger als das (genaue) Ziel, der Wunsch, der Wille, die Brunst zu marschieren. Wichtiger als der Geist, die Liebe. Beides lebt in diesem Buche [Ziel 1]. Das nur den einen Fehler hat: ein Buch zu sein. Aber ein Buch, das jeder lesen muß, der gegen Ekel, Elend, Unrecht, der gegen - Gestern und für Morgen ist." Allerdings kann sich ihre "Phantasie" nicht die Vollendung des Wünschenswerten vorstellen; ein klarer Fall von Pessimismus gegenüber Hillers "Meliorismus", dem Vorsatz, die Welt zu verbessern. Die melioristische Haltung entlarvt "Optimismus" und erst recht "Pessimismus" als entwicklungshemmende Einstellungen.

Dieter Schumacher: Der "herrschende Gedanke" (S. 74-93)

Neben dem "herrschenden" spricht Nietzsche auch vom "höchsten Gedanken". Der herrschende bestimmt das Denken und Handeln, der höchste verkündet das Bild eines utopischen Lebens, das sich von der gegenwärtigen Wirklichkeit abhebt und die Sehnsucht nach dem Vollkommenen ausspricht. Der höchste Gedanke berührt unmittelbar die Figur des Übermenschen und die Ethik der Wiederkehr-Idee. Beide Gedanken-Begriffe müssen inhaltlich nicht übereinstimmen; natürlich wünscht Nietzsche, daß der höchste Gedanke auch der herrschende werde.

Nietzsches Verknüpfung der Liebe zum Leben mit dem höchsten Gedanken zeigt eine zyklische Struktur: das Leben "zielt" auf sich selbst. Bei Nietzsche dreht es sich um das Individuum, bei Hiller um die Menschheit, der er das Leiden ersparen will. Solange eine Kluft zwischen Wunsch und Wirklichkeit bestehe, sei dies kein Zirkelschluß, bemerkt Hiller, um dem logischen Einwand zu begegnen. Das scheint mir überflüssig, denn der Zyklus des Lebens hat nichts mit einem Schluß zu tun. Ziel- und Wertsetzungen liegen jenseits des Logischen, wie Hiller in seinen Schriften immer wieder betont. Logik reguliert die Formen der Darstellung, nicht die Formen der Wirklichkeit.

Martin Klaußner: Über Kurt Hiller's Sein und Sollen und vom Geldbeutel (S. 95-117)

Kurt Hillers Exilsituation ist eine andere, als die berühmter und gefeierter Autoren, wie Bert Brecht, Lion Feuchtwanger, des Mann-Clans, eines Stefan Zweig oder Kerr, eines Kesten, eines Alfred oder Robert Neumann, eines Zuckmayer, eines Adorno oder Horkheimer, die, alle mehr oder weniger frei von existentiellen Nöten, auf der Suche nach Veröffentlichungsmöglichkeiten und Verlagen waren, nicht ohne Einfluß und Gehör in ihren jeweiligen Gastländern blieben und still und gepflegt vor sich hinschrieben, während andere permanent auf der Flucht vor Nazis und ihren Helfershelfern waren, auf der Jagd nach Visa, Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigungen, einem Zimmer, Essen, auf der Flucht vor Denunzianten, auf der Flucht vor den Mördern Stalins, hungernd, frierend, interniert, entwürdigt, Freiwild für jeden, Selbstmord begingen, wie Benjamin, Ernst Weiß, Hasenclever, Schickele, Wolfenstein, oder sich verstecken mußten, um doch irgendwann entdeckt und deportiert und umgebracht zu werden, wie Felix Nußbaum, der Maler, oder Alfred Grünewald, der Dichter, oder sich zu Tode tranken, wie Joseph Roth, ohne Hab und Gut, verboten und verbrannt die Bücher in der Heimat, oder Ernst Toller, der an Deutschland zugrunde ging und sich in New York erhängte, und Karl Wolfskehl, der vollkommen vereinsamt und isoliert, halb blind auf Neuseeland saß, oder jene, die nach Moskau geflohen waren, um dort in Masochismus pur sich der scheußlichsten Verrätereien am kommunistischen Gedankengut zu bezichtigen, aus Angst und Not, wie im KZ, Freunde, eigne Ehepartner denunzierten und verkauften und doch im Zuge einer glatten stalinistischen Säuberung durch Erschießen oder Lager liquidiert wurden.

Harald Lützenkirchen: Wo sind die Hiller-Briefe? (S. 118-169)

Diejenigen, die Hillers Briefe stilistisch und/oder sachlich zu schätzen wissen, sind offenbar - im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten - bereit, hohe Preise zu zahlen, um Originale zu besitzen. Also spielt das Flair des Originals, aber auch der Sammeltrieb eine Rolle, obwohl das typische Sammlerziel "Vollständigkeit" bei Briefen KHs nicht erreicht werden kann.

Die Faszination Hillerscher Briefe läßt sich an vielerlei Einzelpunkten erläutern:

- programmatisch wichtige Meinungsäußerungen, die sich nicht in seinen Büchern wiederfinden

- brillante Sprachstilistik zu Themen, die sich nicht in seinen Büchern wiederfinden

- witzige und originelle Ideen und Sprachspiele, ebenfalls so nicht in seinen Büchern nachlesbar

- aufschlußreiche Beilagen wie z.B. die Nasiarchen-Zeichnungen und Zeitungsausschnitte mit handschriftlichen Kommentaren darauf

- amüsante Bemerkungen zu Randthemen wie z.B. der Philatelie

- formelle Unterschiede wie: handschriftlich/maschinenschriftlich, Verwendung von Briefbogenvordrucken von einer seiner Gruppen, verschiedenfarbige Kugelschreiber-Verwendungen

Till Böttger: Kurt Hiller und Fritz Böttger zur Logokratie - ein Disput in Briefen (S. 170-206)

Lpzg 12/2 59

Lieber Doktor!

Für den Kartengruß vom 9.II. besten Dank. Wie Sie bemerkten, schlug mir das Gewissen stark, so daß ich endlich die Schreibmaschine in Gang setzte. Sie sind wohl inzwischen in Besitz meines Briefes vom 7. gelangt. Ich bitte nochmals um Pardon und verspreche, mich zu bessern, indem ich künftig Ihre Sendungen postwendend wenigstens mit einer Karte bestätige.

Die Original-Nummer der RUNDSCHAU erhielt ich nicht. Zeitungsdrucksachen und ähnliche Konterbande konfiszieren unsere Douaniers ohne Rücksicht ob von Freund oder Feind. Ihren Aufsatz kenne ich also nur im Auszug des Neuen Deutschland.

Heinemann sprach in Hamburg!

Die Konföderation - bemerkte er -

Wird unsere Einheit begründen,

sie wird das zersplitterte Vaterland

zu einem Ganzen verbinden.

(frei nach Heine)

Mit den herzlichsten Grüßen Ihr FB

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Hbg 14/II 59

Lieber Freund FB,

Dank für die Karte vom 12ten. Hier ist das Blatt aus der GR, das Sie interessiert, aus der Ganznummer, deren Exemplar "verloren ging". Idiotischer kann Bürokratie nicht handeln, als wenn sie die Einfuhr eines Textes verhindert, aus dem das >Neue Deutschland<, also die führende und hochoffizielle Zeitung des Landes, rühmend oder zumindest freundlich zitiert hat!

By the way: Ich versandte noch ein zweites Exemplar ostwärts, an einen Funktionär der >Deutschen Akademie der Künste<; es erreichte den Adressaten ... wie ich zufällig, just heute erfuhr.

Zwischen Ende März und Anfang Mai (Datum noch unfest) findet in meinem Arbeitszimmer ein neusozialistisches Zwergkonzil statt, mit wirklich "wesentlicher" Thematik. Welch ein Jammer, dass Sie ihm nicht, wenigstens als Mäuschen, beiwohnen können.

Herzlichst Ihr KH.