Aktivismus und Expressionismus

Der Literat greift in die Politik ein

Der "Geist" beende seine Untätigkeit und greife aktiv in die Politik ein. Dies ist das Leitmotiv für eine Reihe von Büchern, die engagiert Stellung bezogen gegen die deutsche Gesellschaft zur Zeit des 1.Weltkriegs.
"Geist" meint die kritische, charaktervolle Vernunft, die barbarische gesellschaftliche Zustände in humane umwandeln will. Während der Regentschaft des Kaisers Wilhelm I. wuchs die Zahl der Künstler, die eine Art Sendungsbewußtsein für eine kritische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft entwickelten. Auf dem Gebiet der Malerei manifestiert sich diese Einstellung als Wandel von der Verinnerlichung zur Veräußerlichung, durch den Schritt vom Impressionismus zum Expressionismus. Kurt Hiller und "Kampfgefährten" übertrugen den Begriff Expressionismus auf die Literatur zur Kennzeichnung der Tendenz, Innerlichkeit als dekadent zu entlarven und sich mit der Außenwelt des Individuums zu beschäftigen. Dem geistigen Literaten sollte die Aufgabe zukommen, in der Politik tätig zu werden, um seine bisherige Untätigkeit auf dem ach so profanen Gebiet der Politik zielgerichtet zu überwinden.
Dies war mehr als Expressionismus, dies war Aktivismus. Kurt Hiller und seine Schriftstellerkollegen Rudolf Kayser und Alfred Wolfenstein ersannen dieses Schlagwort im Herbst 1914, kurz vor Ausbruch des 1.Weltkriegs. Hiller selbst definierte den Unterschied dergestalt, daß er den Expressionismus als eine Ausdrucksart empfand, den Aktivismus hingegen als eine Gesinnung, wobei beides in einer Person zusammenfallen konnte. Schockiert durch die Geschehnisse während des Kriegs schlossen sich viele Schriftsteller der Gesinnung des Weltänderungswillens an. Nach Ende 1918 wurden eine Reihe mehr oder weniger aktivistischer Literaturzeitschriften aus der Taufe gehoben, und es erschienen viele Bücher, denen der Wille zum Aktivismus gemeinsam war.
Hiller war sich von Anfang an bewußt, daß der Wille zur Weltänderung nur dann in der Realität eine Chance besaß, wenn sich die Geistigen zu einem Bund zusammentaten. Dabei war es auch vonnöten, ein klares Ziel zu setzen, weil aus einem Aktivismus sonst ein blind herumwurstelnder Aktionismus werden kann. Es ist offensichtlich und nicht verwunderlich, daß der Aktivismus "keine Geschlossenheit und Einheitlichkeit" zeigte, vielmehr eine "Vielfalt individueller Denkansätze" barg, da er eine "Tribüne unabhängiger Geister" war.
Unter Mitwirkung zahlreicher fortschrittlicher Schriftstellerkollegen gab Hiller von 1916 bis 1924 fünf Jahrbücher heraus, die unter dem Obertitel "Das Ziel" erschienen. Daß sie Meilensteine des Aktivismus sind, liegt nicht nur an ihrer Unbekanntheit und Seltenheit.

Den krönenden Abschluß des Buches Ziel 1 bildet Hillers Artikel "Philosophie des Ziels". Hierin erörtert er die ganze Bandbreite seiner damaligen Erkenntnisse und seines Willens in Richtung auf das Ziel seines Aktivismus. Er betont den Voluntarismus, das Wollen als Antriebskraft zur Erreichung eines Ziels. Ferner stellt Hiller erkenntniskritische Überlegungen an, um seine Vorgehensweise rational zu begründen bzw. überrational zu erläutern. Hierzu gehört der methodologische Verweis auf die notwendige Unterscheidung zwischen Seiendem und Seinsollendem (Ontologie/Deontologie), wobei das Seinsollende die Zielvorgabe bildet.

Als konkretes, wenngleich entferntes Ziel will Hiller das Paradies auf Erden erreichen. An diesem Endziel sollte sich alles Streben des Geistes orientieren. Doch um es zu erreichen brauchen die Geistigen, die geistig, aktivistisch, charakterlich Besten, Macht. "Da alle bisherige Erfahrung zeigt, daß die Verwalter der Nationen auf das bloße Wort des Geistes nicht hören, müssen die geistigen Menschen selbst die Verwaltung der Erde in die Hand nehmen." Um die nötige Macht zu erlangen, müssen die Geistigen sich zusammentun, einen Bund schließen, welcher nur durch Selbstzeugung entstehen kann, und der dann auf die Geschicke der Politik Einfluß nimmt.

Den Auftakt zum 1.Ziel-Jahrbuch macht Heinrich Manns Artikel "Geist und Tat". Hierin huldigt Mann dem französischen Volk von 1789, das seine inhumanen Machthaber gestürzt habe, geistig vorbereitet von seinen Literaten. Im Unterschied zum deutschen habe das französische Volk literarischen Instinkt und lebensnahen Geist, und es höre auf seine Schriftsteller. Insofern hätten es die Literaten von Roussau bis Zola leicht gehabt, den jeweiligen Machthabern kritisch gegenüberzustehen und die Erkenntnisse ihres Geistes in die Tat umsetzen zu helfen. "Die Zeit verlangt und ihre [der deutschen Literaten] Ehre will, daß sie endlich, endlich auch in diesem Lande dem Geist die Erfüllung seiner Forderungen sichern, daß sie Agitatoren werden, sich dem Volke verbinden gegen die Macht, daß sie die ganze Kraft des Wortes seinem Kampf schenken, der auch der Kampf des Geistes ist."

Hiller sichtet im "Litteraten" denjenigen, der alle Fähigkeiten mitbringt, die ein Geistiger haben muß. Diese Zuordnung hat er späterhin relativiert, indem er dann von den Geistigen und deren Fähigkeiten im Detail sprach, ohne übermäßig große Betonung der literarischen Fähigkeit.

Dem Individuum und seinem Erleben sind eine Reihe weiterer Artikel des 1.Ziel-Jahrbuchs gewidmet. Hiller bringt dabei eine ihm widersprechende Stellungnahme von Franz Werfel zum Wiederabdruck, welche "Die christliche Sendung" betitelt ist. Dessen Einwände gegen den Aktivismus (aus Sicht eines Christen) und die Entgegnungen darauf beleuchten das Wesen und die Funktion der Geistigen. Der wichtigste Punkt in der Diskussion dürfte sein, daß Werfel dem Aktivismus die Vernachlässigung der Entwicklung der Individuen unterstellt, zugunsten einer Beschäftigung mit Institutionen. Dem widerspricht Hiller deutlich unter Berufung auf seine Schriften, die nicht zuletzt auch Appelle an die Gefühle und Instinkte seiner Mitmenschen sind, deren Formung einhergehen muß mit der Schaffung neuer Institutionen.

1917 hatte Hiller einen "Bund zum Ziel" gegründet, der sich heimlich traf und "auf schnellen Schluß mit der Hohenzollernmonarchie und ihrem Kriege, auf Teilnahme am Aufbau einer Republik des Friedens, der Freiheit, der sozialen Gerechtigkeit, des Geistes" hinarbeitete. Später nannte er ihn "Aktivistenbund", und nach dem 9.November 1918 "Rat geistiger Arbeiter". Mitte 1919 führte Hiller einen Aktivistenkongreß in Berlin durch. Das Programm des "Bund zum Ziel" und des "Politischen Rats geistiger Arbeiter" sind in Ziel 3 abgedruckt; ein Bericht über den Aktivistenkongreß im 4.Ziel-Band. Der Kongreß brachte Aktivismus-Freunde des damaligen Kulturlebens in Deutschland zusammen und führte zu modifizierten Beschlüssen des Programms des "Politischen Rats geistiger Arbeiter". Die Wirkung auf die breite Öffentlichkeit wurde jedoch verfehlt, da zu der Zeit der Abschluß der Versailler Friedensverhandlungen das große Thema in den Zeitungen war.

Es drängt sich die Frage auf, ob der Aktivismus in der Sphäre der Theorie und des Wortes verharrt, oder ob er durch das Wort zur Tat wird, indem er reale Änderungen zur Folge hat. Samuel Saenger formuliert in einer Rezension zum 1.Ziel-Band die Frage so: "Ist diese Sammlung abermals Papier, oder ist sie Vorstufe zu erhöhtem Leben?" Manfred Georg beantwortet diese Frage positiv mit seiner Feststellung: "...was da gesagt wird [...] ist Wort für Wort so entsetzlich wahr und so trefflich begründet, daß diese Sammlung notwendiges Arsenal und (soweit ich die Literatur übersehe) bestfundamentierter Ausgangspunkt für jede künftige Diskussion, besser Tat, ist."

Franz Kobler attestiert den Ziel-Büchern ebenfalls, daß sie mehr seien als nur Literatur: "...dies sind nicht Bücher, wer dies berührt, berührt - eine Bewegung! Nur miteilen, mitgerissen werden kannst du hier, bist du ruhebedürftig, halte dich fern! Fordere keine Besprechung! Fliege mit!"

Hiller resümierte 1942 rückblickend: "Wir Aktivisten hatten eine schwere Aufgabe. Erst mußten wir, so etwa 1910 bis 18, die Intellektuellen für die Politik gewinnen; dann, als dies im ganzen gelungen war, die Politiker für den Intellekt. Der zweite Teil der Aufgabe blieb bisher ungelöst."

Den Wert der geschriebenen Propaganda im Vergleich zur konkreten Tat beurteilt Hiller wie folgt: "Ohne Matrosen und Massen wäre keine Revolution verwirklicht worden; dennoch urteilt verkehrt, wer ihnen allein das Verdienst am siegreichen Umstürzen der imperialen Idiotokratie zuschreibt. Dieses würde ohne geistige Vorbereitung, ohne Parteien, Bünde, Köpfe, Presse, Litteratur, ohne Aktivität der Aktivisten unmöglich geblieben sein. Erst die Tätigkeit der ‚Utopiker' machte die ‚Utopie' topisch".

Hermann Hesse äußerte sich zum Aktivismus von einem passivistischen Standpunkt aus: "Und wenn ich nun unsere Dichtung und Geistigkeit von heute ansehe, so erschreckt ihr niedriger Stand mich keineswegs, denn ich weiß: die Besten schweigen. Sie sitzen auf verlorenen Inseln, von der Menge und vom Ton des Tages durch Entfernungen von Entwicklungsjahrhunderten getrennt. Sie fühlen, daß es keinen Wert hat, mitzuschreien, oder auch nur sein Gut zu verteidigen. Sie folgen den Ereignissen mit dem Anteil, den ihre traurige Größe täglich fordert; aber die meisten von ihnen haben nicht mehr die Illusion, daß ein plötzlich politisch gewordener Dichter den öffentlichen Dingen wesentlich aufhelfen könne." Es gibt kaum Äußerungen von Kurt Hiller über Hermann Hesse, aber sein Urteil über diese pessimistische Einstellung dürfte klar sein.

Trauriger Höhepunkt menschlicher Hilflosigkeit im Bereich des Handelns dürfte Martin Heidegger sein, der im berühmten "Spiegel"-Interview äußerte: "Nur ein Gott kann uns noch retten" . Als ob der Mensch nicht geistige Kapazität genug hätte, die Gesellschaft human zu gestalten! Hiller hatte diesen "Philosophen" schon in den Vierziger Jahren durchschaut und ihm attestiert, daß er statt des Gehirns einen metaphysischen Blumenkohl im Schädel herumtrage: "Das äußert sich in einer Sprache, die nur dem Ausländer deutsch klingt, während sie dem Deutschen von Urteil einen nie versiegenden Born der Heiterkeit bildet. [...] Es äußert sich aber nicht nur im Stil. Es äußert sich auch im Ismus: im zwar schnörkligen, dennoch stumpfsinnigen Inhalt jenes 'Existentialismus', der auf das simple und unsittliche Hegelsche Ja zu allem Bestehenden hinausläuft."

Hiller machte auf Heideggers Freiburger Rektoratsrede aufmerksam, in der dieser den Studenten empfohlen hatte, zugunsten des "Führers" die "Ideen" abzusetzen. Hillers Kommentar dazu: "Ein Berufsfeldwebel, der in solcher Weise daherredete, würde nur Blech brüllen; ein Professor der Philosophie, der sich erniedrigt, dergleichen zu plakatieren, gibt Kot als Gold aus und verrät den Geist. Da ist breite Polemik unangebracht; Denkwebeln dieserart wird einzig der Fußtritt gerecht. Wer die Stirnlosigkeit besaß, zugunsten des durch Hindenburg eingesetzten Hitler die Ideen abzusetzen, gehört in den Urwald, aber auf keinen Lehrstuhl."

Die historische Einordnung des Aktivismus gestaltet Hiller wie folgt: "Als am Ende des Wilhelminischen Zeitalters die Klatschrose des intellektuellen Lebens pomphaft in unerhörter Blätterüberfülle, nur leider selbstgenügsam jenseits der politischen Realität, gleichsam gespenstisch-üppig blühte, kam reißend der Aktivismus, der rationale, der humanistische, verfluchte den Selbstzweckgeist und forderte Verwirklichung der ethischen Ideen im gesellschaftlichen Raum. Was damals Kerr, Helene Stöcker, Landauer, Heinrich Mann, Rubiner, Leonard Nelson, Tucholsky, Toller und wir andern dachten, sagten, drucken ließen und durchzusetzen suchten, knüpfte nicht bewußt, aber faktisch sowohl ans 'Junge Deutschland' an wie an Tendenzen, die dem Zeitalter um 1800 seinen Glanz und seine Größe gegeben hatten."

Den Unterschied zwischen Expressionismus und Aktivismus stellt Hiller am Beispiel des Schriftstellers und Arztes Gottfried Benn heraus: "Gerade Benn zeigt, wie energisch man, wenn man jenes Zeitalter verstehen will, Expressionismus und Aktivismus zu trennen hat. Benn war vom Aktivismus angewidert, namentlich von dessen humanitärer Quintessenz. Bald nachdem meine 'Philosophie des Ziels' erschienen war, schrieb er für eine bei Erich Reiß erscheinende Broschürenreihe ein Pamphlet gegen mich, zwar ohne Nennung seines Gegners, aber in der Sache völlig eindeutig: gegen Weltänderung, gegen Sozialaufgabe, gegen Politik, für reine Kontemplation, Selbstvollendung, Ich-Exhibition und -Gestaltung; ontologische Versenkung und Ästhetizismus wurden gehißt, gegen Ethizismus und Aktion. Diese Tendenz kehrt in all seinen theoretischen Altersschriften wieder; Expressionist Benn war nicht nur kein Aktivist, er war ein leidenschaftlicher Feind des Aktivismus ... und durch sein tolles sprachliches Talent ein dieser Lehre, Bewegung und Haltung sehr gefährlicher, sehr schädlicher Feind."